Flávio de Carvalho
118 - Die Unterlegenheit Gottes
Eine der interessantesten und schillerndsten Figuren der brasilianischen Moderne ist zweifelsohne Flavio de Carvalho. Er war Maler und Zeichner, Ingenieur und Architekt, Journalist und Theaterautor und nicht zuletzt «Performer». De Carvalho wird 1899 in eine Aristokratenfamilie geboren, die mit Kaffee zu einem Vermögen kam. Ab dem zwölften Lebensjahr verbringt er seine Schulzeit in Paris und Grossbritannien, wo er auch Bauingenieurswesen studiert. Zurück in Brasilien arbeitet er ab 1922 im wichtigsten Architekturbüro von São Paulo.
Zu Beginn der 1930er Jahre inszeniert de Carvalho mehrere performative Projekte, die er als «Experiencias» bezeichnet. Bei der zweiten Experiencia läuft er einer Fronleichnamsprozession in São Paulo entgegen und behält dabei eine grüne Samtmütze – aus seiner Schulzeit in Grossbritannien – auf. Dieses respektlose Verhalten führt rasch zu Wut bei den Prozessionsbeteiligten. De Carvalho muss unter Polizeischutz weggeführt werden. In einer Publikation untersucht er die Psychologie hinter diesem Zornausbruch der Gläubigen.
Diese religions- und glaubenskritische Haltung nimmt der Künstler in verschiedenen Werken auf wie in «Die endgültige Himmelfahrt Christi» oder im hier ausgestellten «Die Unterlegenheit Gottes» auf. Am oberen Rand des Bildes in der Mitte ist ein Kopf mit welligen Haaren zu sehen. Am unteren Rand etwas links der Mitte sind ein Bein und ein Fuss zu erkennen. Alle anderen Formen sind abstrakt: wellenförmige Bildelemente stehen neben eckigen. Die Formen der linken Seite erinnern an Treppen, Backsteine und Architektur; rechts ist es eher eine Felsformation, hinter der die Figur hervortritt. De Carvalhos Komposition ist eine sehr eigenständige und irritierende Mischung von Surrealismus, Expressionismus und Kubismus.