Lasar Segall
105 - Pogrom
Die Andersartigkeit, das Gefühl fremd zu sein, durchzieht Lasar Segalls gesamtes Leben und Schaffen: In Vilnius kommt er in einer jüdischen Familie zur Welt, in Deutschland verbringt er seine Studienjahre und wird schliesslich in Brasilien zu einem gefeierten Künstler. Vilnius war in Segalls Kindheit Teil des Russischen Reichs. Juden hatten nur eingeschränkte Rechte und konnten nicht die volle Staatsbürgerschaft erlangen. Pogrome gegen Juden, das heisst ihre gewaltsame Unterdrückung und die Zerstörung von religiösen Gebäuden und Häusern, waren weit verbreitet. Segall beschrieb dies so:
«Die Menschen von Vilnius, besonders die Juden, haben in der Vergangenheit viele Gräuel durchgemacht, einschliesslich blutiger Pogrome und Katastrophen, die verblasst sind unter alledem, was danach noch über die Stadt hereingebrochen ist. Es ist schwierig, ja so gut wie unmöglich, diese Dinge im Detail zu beschreiben, denn es gibt keine angemessenen Worte für diese Lage, und man muss es mit eigenen Augen sehen, um in seiner schrecklichen Wirklichkeit das ungeheure Leid zu erkennen, von dem das Leben Tausender der Verdammnis geweihter Seelen bedroht ist.»
Mit dem Bild «Pogrom» setzt er sich klar mit Unterdrückung und Gewalterfahrung auseinander, aber auch mit der Geschichte der eigenen Familie. Segalls Bild entsteht 1937, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in einer Zeit, in der Diskriminierung höchst aktuell wird. Segall zeigt eine Gruppe Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts. Sie liegen auf Ruinen, vielleicht von einer Synagoge – eine Thorarolle in hebräischer Schrift ist zu erkennen. Auch wenn die Personen, vor allem ihre Gesichter, schlafend wirken, wird trotzdem klar, dass es sich um Tote handelt. Im Vergleich zu früheren Werken von Segall ist die Farbe nicht mehr leuchtend und bunt. Vielmehr beherrschen Braun- und Grautöne die Palette und betonen die Gräuel des Pogroms. Dennoch malt Segall kleine Hoffnungsschimmer: ein Vogel fliegt über die Szene und unten links wächst eine kleine Pflanze.