Musik – Brasilien hören… und tanzen
Die brasilianische Musik mit ihren diversen kulturellen Wurzeln verfügt über eine enorme rhythmische Vielfalt. Ihre verschiedenen Genres sind aus der musikalischen Verschmelzung Indigener, europäischer und afrikanischer Kulturen entstanden. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass sich all diese verschiedenen Musikrichtungen in den unterschiedlichen Epochen mit brutalen Erfahrungen wie der Sklaverei oder der Gewalt gegen die Indigenen Völker auseinandersetzen. Verschiedene Glaubensrichtungen, Rituale und Formen von Arbeit sind mit unterschiedlichen Arten des Feierns verwoben. Die Musik bildet den Kontrapunkt zu allen Widrigkeiten und dient darüber hinaus als Mittel, um die Schwelle zwischen individueller und kollektiver Erfahrung, zwischen Affekten und Emotionen, Aufständen und neuen Zeiten zu überwinden. 1916 veröffentlichte Donga das erste in Brasilien aufgenommene Samba-Lied Pelo telefone (Über das Telefon). Zur selben Zeit entwickelten die Komponisten Heitor Villa-Lobos und Pixinguinha den Choro weiter.
In den späten 1910er und frühen 1920er Jahren experimentierten brasilianische Musiker:innen und Komponist:innen der Moderne mit dem historischen Repertoire und betraten musikalisches Neuland. Bei grossen Festen und Umzügen wie dem Karneval trugen neue Stile wie Choro, Samba, Coco, Baião und Marchinha dazu bei, ein Gefühl von Gemeinschaft zu fördern. Die brasilianische Volksweisheit «Wer singt, vertreibt seine Sorgen» ist mehr als ein Sprichwort und beschreibt die Fähigkeit, das Leben trotz aller Schwierigkeiten mit Tanz und Gesang zu feiern.
Immer wieder entstanden in Brasilien neue Formen des Musizierens und Singens: Ende der 1950er Jahre wurde beispielsweise der Bossa Nova in einer leisen Revolution zu einem weltweiten Erfolg. Er verkörpert eine von Utopie geprägte Epoche der brasilianischen Geschichte, in der auch die neue Hauptstadt Brasília nach Plänen von Lúcio Costa und Oscar Niemeyer erbaut wurde.
Die Brasilianer:innen hörten selbst in den dunkelsten Zeiten nicht auf zu singen, wie während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985: Mit einer Fülle neuer Genres wie der Jovem Guarda, mit Tropicália, aber auch mit Protestund Volkstänzen wie Forró und Carimbó brachten viele Künstler:innen ihre Sorgen, Hoffnungen und ihre Freude zum Ausdruck. Wir laden Sie herzlich ein, mit uns zu singen und zu tanzen.
Nachklänge der kolonialen Welt: Lundu und Modinha
Die vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in Brasilien verbreiteten Musikrichtungen tragen in sich tiefe Spuren der kolonialen Erfahrung. Im 19. Jahrhundert äusserten sich diese in Form von Musikstilen wie dem afrobrasilianischen Volkstanz Lundu und der Modinha, einem lyrisch-sentimentalen Lied, das sowohl im portugiesischen Mutterland als auch in der brasilianischen Kolonie verbreitet war.
Ursprünge der städtischen Populärmusik: Polka, Choro und Maxixe
Die Polka, eine Tanzform mitteleuropäischen Ursprungs, eroberte im 19. Jahrhundert die ganze Welt. Man kann sie sogar als erste moderne Form der städtischen Unterhaltungsmusik in der Welt des aufkommenden Kapitalismus bezeichnen. In Brasilien entwickelte die Polka ab den 1870er Jahren vor allem durch den Kontakt mit der afrodiasporischen Kultur eine eigene Ausdrucksform und wurde zusammen mit Genres wie Maxixe und Choro zu einer der Grundlagen der städtischen Populärmusik.
Zwischen Modernismus und Nationalismus: Heitor Villa-Lobos und Mário de Andrade
1928 veröffentlichte Mário de Andrade seinen Ensaio sobre a música brasileira (Essay über die brasilianische Musik). In der Rolle eines Ethnografen sammelte er auf Reisen durch das Landesinnere ländliche musikalische Themen und legte damit einen Grundstein für das Schaffen brasilianischer Komponist:innen. Sein Grundgedanke war es, auf Grundlage von Melodien der brasilianischen «Folklore» Stücke zu schreiben, jedoch unter Verwendung der konventionellen Notationstechnik der europäischen Konzertmusik – nur so könne sich die nationale Musik «emanzipieren». Villa-Lobos war Anfang des 20. Jahrhunderts ein herausragender Komponist auf der Suche nach einer Stimme für die brasilianische Musik. Sein umfangreiches Werk verwirklicht in gewisser Weise das Anliegen Mário de Andrades, wenn auch nicht so programmatisch, wie dieser es sich vorgestellt hatte.
Mein brasilianisches Brasilien: Rund um den Samba
In den 1920er Jahren hatte Brasilien eine extrem niedrige Alphabetisierungsrate und war geprägt von der Versklavung Schwarzer Menschen. Vor diesem Hintergrund gewann die urbane Populärmusik an Bedeutung. Sie erlangte einen besonderen kulturellen Stellenwert, der durch die Verbreitung auf Schallplatten und im Radio noch verstärkt wurde. Mit der Musik entwickelten sich auch die Volksfeste und wurden vor allem rund um den Karneval zu einem festen Bestandteil der Kultur. Genres wie Marcha und Samba wurden in den 1930er und 1940er Jahren so zentral, dass der brasilianische Staat diese Populärmusik als politisches Nationalsymbol des Brasilianischen übernahm. Der Samba hat seine Wurzeln in der städtischen und ländlichen Klangkultur Schwarzer Brasilianer:innen, und seine Praktiken sind auf unterschiedliche Weise in ganz Brasilien präsent.
Nächte im Norden: Xote, Xaxado und Baião
Die nördlichen und nordöstlichen Regionen sind seit jeher eine Art Schatzkammer der brasilianischen Klangkultur. Sie tragen das Erbe der kolonialen Sklaverei in sich und haben gleichzeitig eine originelle und zeitgenössische Lebendigkeit sowie Lokalkolorit bewahrt. Doch der kommerzielle Erfolg musikalischer Werke hing stets vom Urteil des Südostens ab, dem Regierungssitz und Zentrum der Unterhaltungsindustrie. In den 1950er Jahren erlangte das Genre des Baião und seiner Varianten Xote und Xaxado durch das Schaffen von Luíz Gonzaga landesweite Anerkennung.
Das Glücksversprechen: Bossa Nova und der Welterfolg brasilianischer Musik
In den 1950er Jahren erlebte Brasilien unter Präsident Juscelino Kubistchek eine Phase der Industrialisierung und relativer wirtschaftlicher Prosperität. In Rio de Janeiro liessen junge Musiker und Komponisten wie Tom Jobim und João Gilberto den traditionellen Samba der vergangenen Jahrzehnte unter neuen rhythmischen, melodischen und harmonischen Vorzeichen wieder aufleben. Die zeitgenössische literarische Hochkultur erfuhr eine starke Annäherung an die Populärmusik, als der Dichter und Diplomat Vinícius de Moraes von der Poesie zur Musik überging. Erneut stand die Populärmusik im Mittelpunkt des kulturellen Geschehens, diesmal jedoch mit einer ausgefeilten Beziehung zwischen Text und Musik, die von Mitgliedern der brasilianischen Bildungselite geschaffen wurde. In diesem Kontext entstand der Bossa Nova, der Brasilien auf moderne und originelle Weise international bekannt machte.
Lied in Trance: Tropicália und Protestlieder
Ab den 1960er Jahren erlebte Brasilien die Entwicklung hin zu einer Militärdiktatur, die etwa 20 Jahre andauerte. Trotz der Unterdrückung progressiven Denkens und der Verfolgung von Künstler:innen erlebte das Land einen starken kulturellen Aufschwung, der die Erfahrungen der damaligen Jugendkultur weltweit widerspiegelte. Caetano Veloso, Gilberto Gil und Tom Zé, um nur einige zu nennen, schufen die vielschichtige und komplexe kulturelle Musikbewegung Tropicália, die die brasilianischen Erfahrungen der vorangegangenen Jahrzehnte hinterfragte und neue Zukunftsvisionen erschuf. Rund um die Studentenbewegung entstand eine Welle von Protestsongs gegen die Diktatur. Die Szene war geprägt von Grössen wie Maria Bethânia, Chico Buarque und Jorge Ben Jor. In dieser Zeit entstand eine bemerkenswerte Vielzahl höchst origineller Werke der kommerziellen brasilianischen Musik.
Choro, oder auch Chorinho genannt, ist ein populärer Musikstil, der sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts herausbildete. Pixinguinha verband im Choro europäische Salontänze wie Polka oder Walzer mit afrikanischen Rhythmen. Heitor Villa-Lobos komponierte 1921 seinen ersten Choro mit dem Ziel, eine Synthese der stilistischen Elemente und Formen der brasilianischen Musik zu erreichen.
Der Baião ist ein populärer Musikstil aus dem Nordosten Brasiliens, der sich im frühen 20. Jahrhundert entwickelte und in den 1940er Jahren durch Musiker wie Luiz Gonzaga populär wurde. Der Stil ist durch seine markanten, synkopierten Rhythmen und schnellen Tempi gekennzeichnet. Typische Instrumente im Baião sind das Akkordeon, die Zabumba (Trommel) und der Triangel. Die Texte im Baião behandeln oft Themen des ländlichen Lebens, der Natur, der Liebe und soziale Fragen.
Forró ist ein populärer Musik- und Tanzstil aus dem Nordosten Brasiliens, der eng mit dem ländlichen Leben und den kulturellen Traditionen der Region verbunden ist. Er ist wie der Choro eine Mischung aus europäischer Tanzmusik und afrikanischen Rhythmen. Forró hat einen markanten, synkopierten Rhythmus, der oft durch eine Kombination von Zabumba (Trommel), Triangel und Akkordeon erzeugt wird. Zur Musik wird paarweise getanzt, in enger geschlossener Haltung und mit schnellen Fussbewegungen.
Donga veröffentlichte 1917 den ersten Samba-Song Pelo telefone (Über das Telefon). Samba entstand aus Tanzritualen wie Roda de Samba und Batuque de Angola. Diese wurden von ehemals versklavten Menschen im Viertel um den Praça-Onze-Platz in Rio de Janeiro aufgeführt, das der Maler und Musiker Heitor dos Prazeres als «Pequenas Áfricas» (Kleines Afrika) bezeichnete. Candomblé, eine Religion, die verschiedene westafrikanische und christliche Rituale kombiniert, war die Wiege des Samba. Da afrobrasilianische Traditionen oft von der Polizei unterdrückt wurden, wurden sie in Terreiros (Privathäusern mit Höfen) aufgeführt. Tia Ciata, die Samba-Treffen veranstaltete, und die Musiker Sinhô, Pixinguinha, Donga und João da Baiana sind bedeutende Figuren in der Entwicklung des Samba.
1932 fand der erste Wettbewerb der Sambaschulen mit einer Parade in Rio de Janeiro statt. Mit dem Karnevalsmarsch O teu cabelo não nega (Dein Haar verleugnet es nicht) begründeten die Brüder Valença und Lamartine Babo ein neues Musikgenre. Das sogenannte Marchinha, die Verkleinerungsform von Marsch, persifliert die Feierlichkeit von Militärmärschen.
Mit zwei Liedern, Chega de Saudade und Bim Bom, trug João Gilberto 1958 das Musikgenre Bossa Nova (die «neue Welle») in die nichtbrasilianische Welt. Die eleganten Rhythmen in Kombination mit den zarten Melodien und satten Harmonien beeinflussten Jazz und andere Musikgenres rund um den Globus.
Tropicália, auch als Tropicalismo bekannt, wurde zur Bezeichnung einer modernen brasilianischen Kunstbewegung, die sich durch die Synthese brasilianischer Genres und internationaler avantgardistischer Stile auszeichnete, und vor allem in und durch die Musik einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte. Sie war eine gezielte Reaktion auf die Militärdiktatur und die von dieser 1967 erlassenen neuen repressiven Verfassung.