Architektur
Die ersten modernistischen Gebäude Brasiliens wurden in den 1920er Jahren gebaut. Damit begann eine Ablösung des neo-barocken und neoklassizistischen Stils der Kolonialzeit. Vor allem aus Europa eingewanderte Architekt:innen wie Gregori Warchavchik, Rino Levi oder Lina Bo Bardi entwarfen Gebäude, die der Geradlinigkeit und Schlichtheit des Bauhauses oder des Internationalen Stils entsprachen. Durch Lúcio Costa wurde die Ausbildung revolutioniert; Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius oder Le Corbusier und Max Bill, die beide auch Vorträge in Brasilien hielten, wurden zu Vorbildern für die jungen Architekt:innen. 1933 organisierten einige von ihnen den Ersten Salon der tropischen Architektur. Es handelte sich um eine der ersten Veranstaltungen, die sich mit den klimatischen Besonderheiten Brasiliens befasste. Sie bildet den Anfang der Entwicklung einer eigenen brasilianischen modernen Architektur, die unter anderem in Oscar Niemeyers einzigartigen Gebäuden mündete. Die meisten Architekt:innen entwarfen die Möbel selbst und arbeiteten eng mit Designer:innen, Landschaftsarchitekt:innen und Künstler:innen zusammen.
Casa Modernista
São Paulo, 1927–1928
Gregori Warchavchik, der ukrainischstämmige Architekt, der 1923 nach São Paulo einwanderte, entwarf mit der Casa Modernista eines der ersten modernistischen Häuser Brasiliens im Internationalen Stil, der unter anderem vom Bauhaus geprägt wurde. Seine Frau Mina Klabin Warchavchik war eine Pionierin der modernen Landschaftsarchitektur und gestaltete den Garten. Sie führte ihn auch in den Kreis der modernen Künstler:innen und Schriftsteller:innen ein. Die beiden trugen in der Casa Modernista eine Sammlung mit Gemälden von Tarsila do Amaral, Anita Malfatti und Lasar Segall, Fresken von Antonio Gomide, Grafiken von Oswaldo Goeldi, Reliefs und Glasmalereien von John Graz und Skulpturen von Victor Brecheret und Menotti del Picchia zusammen. Ein Teppich kam direkt aus der Bauhaus- Werkstatt, weitere Textilien waren von Regina Gomide Graz gestaltet worden. Die Möbel, Lampen, Fenster und Türen entwarf der Architekt selbst und schuf so ein modernes Gesamtkunstwerk. Damit die Brasilianer:innen die neuen Formen des modernen Wohnens mit eigenen Augen sehen und erleben konnten, wurde die Casa Modernista für das breite Publikum geöffnet. Rund 20'000 Personen nutzten diese Gelegenheit.
Ministério da Educação e Saúde Pública / Palácio Gustavo Capanema
Rio de Janeiro, 1936–1946
Lúcio Costa erhielt 1936 den Auftrag, ein Gebäude für das Ministerium für Bildung und Gesundheit in der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro zu realisieren. Das Bauwerk wurde auf der Grundlage erster Entwürfe von Le Corbusier von einem jungen brasilianischen Team unter der Leitung von Lúcio Costa und unter massgeblicher Beteiligung von Oscar Niemeyer weiterentwickelt. Es handelt sich um das erste öffentliche Gebäude im Internationalen Stil in Südamerika und bezeugt das Bekenntnis des brasilianischen Staates zur modernistischen Architektur. Der Raum unterhalb des Baus, der einen ganzen Block mitten im Stadtzentrum einnimmt, wurde mittels Säulen als öffentlicher Platz gestaltet. Fussgänger konnten ungehindert passieren und den städtischen Raum ganz neu erfahren. Während die nord-südlich ausgerichtete Fassade vollständig verglast ist, schützen bewegliche Brises Soleil (Sonnenbrecher), die ein geometrisches, einfach zu variierendes Muster bilden, die andere Seite vor der Sonne. Wandbilder mit Keramikpaneelen von Candido Portinari sowie eine Gartenanlage, entworfen von Roberto Burle Marx, ergänzen die Architektur.
Parque da Pampulha
Belo Horizonte, 1942–1943
In der Nähe von Belo Horizonte, der Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais, entstand um die künstlich angelegte Pampulha-Lagune Anfang der 1940er Jahre ein von Oscar Niemeyer entworfenes neues Quartier mit einem Park, der der Bevölkerung bis heute als Naherholungsgebiet dient. Das Projekt war Teil eines grösseren Stadtentwicklungsplans, der vom damaligen Bürgermeister der Stadt, Juscelino Kubitschek, initiiert wurde. Der Parque de Pampulha beherbergt mehrere bedeutende architektonische Werke von Oscar Niemeyer: die São Francisco de Assis-Kirche mit einem Wandgemälde und Keramikpaneelen von Candido Portinari, ein Casino (heute ein Kunstmuseum) und die Casa do Baile («Tanzhaus», heute ein Zentrum für Architektur und Design). Die Gebäude spiegeln Niemeyers charakteristischen Stil wider, der die schlichte kubische Formensprache der in Beton ausgeführten, modernistischen Bauwerke mit geschwungenen Linien kombiniert. Niemeyer arbeitete eng mit dem Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx zusammen, der die Gärten und Grünflächen rund um die architektonischen Strukturen gestaltete. Die Kollaborationen führten zu einem harmonischen Zusammenspiel von Architektur, Kunst und Natur.
Brasília
1956–1960
1955 wurde Juscelino Kubitschek zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Er plante die neue Hauptstadt Brasília im Landesinnern, um die politische und wirtschaftliche Entwicklung dieser Region zu fördern. Die Stadt entstand innerhalb von vier Jahren und lockte Tausende von Arbeiter:innen an. Lúcio Costa entwarf eine visionäre Planstadt, die eine Funktionstrennung der Quartiere, grosszügige Grünflächen und eine klare Verkehrsführung umfasste. Oscar Niemeyer wurde als Hauptarchitekt für viele der öffentlichen Gebäude ausgewählt. Seine Entwürfe für den Nationalkongress, die Kathedrale oder den Präsidentenplast prägen bis heute das futuristische Erscheinungsbild der Stadt. Erneut arbeitete er mit Burle Marx zusammen, der die Grünflächen und Parks gestaltete. Die Stadt ist Ausdruck von Brasiliens Streben nach Modernisierung und Identität als Land des Fortschritts.
Casa de Vidro
São Paulo, 1949–1951
Das Casa de Vidro (Glashaus) der 1946 aus Italien eingewanderten Architektin Lina Bo Bardi ist ein herausragendes Beispiel der «importierten» modernistischen Architektur. Das Gebäude zeichnet sich durch seine schlichte und transparente Struktur aus, die grösstenteils aus Glas und Stahl besteht. Es steht auf schlanken Pfeilern aus Metall, was den Eindruck eines schwebenden Pavillons inmitten der Natur des Stadtteils Morumbi in São Paulo vermittelt. Die Transparenz ermöglicht eine nahtlose Verbindung von Innen und Aussen, von Architektur und Natur. Später wird Bo Bardi in ihren Architektur- und Möbelentwürfen auf einheimische Materialien und Handwerkstechniken zurückgreifen.
Museu de Arte de São Paulo (MASP)
1957–1968
Das Museu de Arte São Paulo weihte 1968 ein neues, von Lina Bo Bardi entworfenes Gebäude an der Avenida Paulista, einer der Hauptstrassen São Paulos, ein. Das Bauwerk besteht aus einem grossen rechteckigen Volumen, das auf zwei massiven, roten Betonsäulen ruht. Der ausgedehnte offene Raum unter dem schwebenden Baukörper wird als öffentlicher Platz genutzt.
Die Glasfassaden des schwebenden Baus beherbergen von natürlichem Licht durchströmte Ausstellungsräume und bieten eine eindrucksvolle Aussicht auf die Stadt. Für die Präsentation der Kunstwerke konzipierte Bo Bardi freistehende Glasplatten, auf denen die Kunstwerke noch heute befestigt sind. Informationen zu den Exponaten erhalten die Besucher:innen auf der Rückseite der Glasplatten. Bo Bardi brach mit traditionellen, chronologischen Ausstellungskonzepten und förderte eine unvoreingenommene und intime Interaktion mit den Objekten. Ihr Entwurf betonte die Bedeutung von Kunst und Kultur als öffentlich zugängliche Güter und förderte die soziale und kulturelle Teilhabe. Er ist ein herausragendes Beispiel für Lina Bo Bardis innovative und menschenzentrierte Architektur.