Literatur
Die Literatur- und Kunstszenen waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eng miteinander verbunden. Es entstanden kollaborative Projekte zwischen Schriftsteller:innen und Künstler:innen. In Manifesten wie dem Manifesto da Poesia Pau-Brasil (1924) und Manifesto Antropófago (1928) forderte der Schriftsteller Oswald de Andrade eine eigene brasilianische Kultur, die sich von Europa loslösen solle. Gleichzeitig wendete er ästhetische Mittel der europäischen Avantgarde an und bediente sich der Figur des wilden Kannibalen (Antropofago). Das Bild dieser Figur war von europäischen Autor:innen im Zuge der Kolonisierung Brasiliens geprägt worden und ist aus heutiger Sicht problematisch. Die Indigenen Legenden, die beispielsweise der Künstler Vicente do Rego Monteiro publizierte, wurden zu einer zentralen Inspirationsquelle vieler, vorwiegend weisser, Schriftsteller in São Paulo wie Mário de Andrade, Raul Bopp, Guilherme de Almeida. Sie reisten in die verschiedenen Regionen Brasiliens und hofften bei den indigenen Völkern im Amazonasgebiet oder in der afrobrasilianischen Kultur im Nordosten die brasilianischen Wurzeln zu finden. Formal erinnern die meisten Publikationen an futuristische, dadaistische oder surrealistische Literatur. Mit dem Anbruch der Diktatur 1937 veränderte sich auch die Literatur. Der Stil wurde realistischer und gesellschaftliche Themen standen im Vordergrund. Erst mit der Wahl von Juscelino Kubitschek 1956 fand wieder eine Öffnung statt. Die Literatur wurde wieder experimenteller und diverser.
Mehr als ein Dutzend Möglichkeiten, Brasilien zu lesen
1920er Jahre: Mit dem Gedichtband Pauliceia desvairada (Verrückte Stadt São Paulo, 1922) antwortete Mário de Andrade mit unerhörten Rhythmen auf die Transformation der Stadt São Paulo in eine grosse Metropole. 1924 wiederum veröffentlichte Oswald de Andrade sein Manifesto da Poesia Pau-Brasil, ein einzigartiger Text, in dem der Export der Lyrik beziehungsweise der brasilianischen Kultur propagiert wird, die einen Kontrapunkt zu den künstlerischen Ideen aus Europa darstellt. Zwar hatten Mário de Andrade und Oswald de Andrade unterschiedliche Ansichten zu Brasilien, doch zeichnen sich beide durch ihren erfinderischen Sprachduktus aus, wie anhand ihrer Schlüsselwerke, jeweils 1928 erschienen, deutlich wird: Oswalds Manifesto Antropófago und Mários Macunaíma. Ersteres proklamiert den Akt der kulturellen Einverleibung, um durch das «Verschlingen» der europäischen Kultur einen Beitrag zu einer genuin brasilianischen Kunst zu leisten. Zweiteres beschreibt, wie der Protagonist des Romans – der «Held ohne jeden Charakter» – im Verlauf seiner Reise vom Norden in den Süden Brasiliens eine Reihe von Metamorphosen (vom Schwarzen zum Weissen, vom Mann zur Frau) vollzieht. Beide Werke bezeugen eine vielfältige Weiterentwicklung der nationalen Literatur im Hinblick auf die ethnische Durchmischung des Landes sowie auf die Mündlichkeit und Verslehre der brasilianischen Sprache.
1930er Jahre: Raul Bopp, der zwischen 1954 und 1958 brasilianischer Botschafter in Bern war, verlagerte in seinem Cobra Norato aus dem Jahr 1931 den Mythos der Anakonda aus dem Amazonasdschungel ins Zentrum des Gedichts. Eine Reihe von Intellektuellen analysierte in den 1930er Jahren die historischen Quellen der brasilianischen Kultur. Zwei diesbezüglich herausragende Werke sind Casa grande e senzala (Herrenhaus und Sklavenhütte) von Gilberto Freyre sowie Raízes do Brasil (Die Wurzeln Brasiliens) von Sérgio Buarque de Holanda. Freyre analysiert die Vermischung – obgleich die koloniale Architektur für eine grosse Distanz zwischen ihnen sorgte – von europäischen Weissen, den Herren, und afrikanischen Schwarzen, den Versklavten. Sérgio Buarque wiederum identifizierte in den Brasilianer:innen das Merkmal der Herzlichkeit in all seiner Widersprüchlichkeit.
1940er Jahre: Clarice Lispector legte in ihrem 1943 erschienen Debütroman Perto do coração selvagem (Nahe dem wilden Herzen) Affekte frei, die Tiefgang und Einfachheit miteinander verbinden. Der Dichter Carlos Drummond de Andrade veröffentlichte 1945 seinen Lyrikband A rosa do povo (Die Rose der Leute), eine poetische Komposition, in dem sich der Einzelne, das Land und die Welt im Gleichgewicht befinden.
1950er Jahre: Cecília Meireles’ Lyrikband Romanceiro da Inconfidência (Romanze der Verschwörung) aus dem Jahr 1953 versammelt historische Stimmen zur Inconfidência Mineira, einer separatistischen Bewegung, die – erfolglos – für die Unabhängigkeit von Portugal gekämpft hatte. Im Jahr 1956 erneuert João Guimarães Rosa mit Grande sertão: veredas (Der grosse Sertão: Pfade) die literarische Sprache. Das magische Universum des Sertão, einer Region im Binnenland Brasiliens, ist durchzogen von Neologismen, archaischen Ausdrucksformen sowie Pfaden aus dem nördlichen Minas Gerais. Letztlich bleiben die Pfade, die geografischen wie die sprachlichen, untrennbar miteinander verwoben. Gegen Ende der 1950er Jahre entwirft eine Gruppe von drei jungen Dichtern (Augusto de Campos, Haroldo de Campos und Décio Pignatari) den Plano piloto para a poesia concreta, ein Manifest, das den Grundstein für eine neue Art des Lesens und des Dichtens legen würde. Die Konkrete Poesie, die Design, Visualität und Klang in sich vereint, sollte für die nachfolgenden Jahrzehnte und Generationen zu einem unumgänglichen Bezugspunkt werden.