Le Corbusier
105 - Brief an Mme Meyer (Promenade architecturale), 1925
Schwarze Tinte auf Papier, 115 x 62 cm
Fondation Le Corbusier, Paris

Neben den axonometrischen Entwurfszeichnungen für seine architektonischen Projekte entwickelt Le Corbusier in den 1920er Jahren eine weitere Methode. Sie dient vor allem dazu, eine Architektur erlebbar zu machen. Le Corbusier nennt diese Methode später die «promenade architecturale»: der architektonische Spaziergang. Das hier ausgestellte Blatt ist Teil eines Briefes von Le Corbusier an die Kundin Madame Meyer. Für sie plant der Architekt eine Villa in Neuilly-sur-Seine, heute bekannt als Villa Meyer. Auf dem Blatt sind kein Grund- oder Aufriss zu sehen, ebenfalls fehlen technische Angaben und Masse. Das Blatt wirkt nicht wie ein Architekturentwurf, sondern eher wie ein Comic oder ein Storyboard für einen Film. Le Corbusier hält eine Reihe verschiedener Ansichten der Villa Meyer fest. Jede Zeichnung ist eine perspektivische Skizze eines Teils der Villa – von der Aussenansicht bis hinauf aufs Dach. Im begleitenden Text führt Le Corbusier die Kundin anhand der Skizzen zum Gebäude, in dieses hinein und durch alle Räumlichkeiten:
«Die Eingangstür wäre seitlich aus der Achse geschoben. Würde die Akademie uns dafür bestrafen? Die grosse, von Lichtdurchflutete Eingangshalle, Garderobe und Toilette verstecken sich dort. Vom Dienstzimmer aus erreicht man die Eingangshallte ohne Umwege. Geht man einen Stock hinauf, erreicht man den Salon, der über den Schatten der Bäume liegt und von dem aus man eine herrliche Aussicht über das Laubwerk hat und man den Himmel sieht…»
Le Corbusiers Anmerkungen machen deutlich, auf was sein architektonischer Spaziergang zielt: Er versucht das Aussergewöhnliche seines Entwurfs zu erklären. Vor allem aber soll er einen Eindruck der Wirkung geben. Die Skizzen werden zu einer Folge von räumlichen Ereignissen.
Oft nutzt Le Corbusier nun gleichzeitig verschiedene Arten von Entwürfen: vom technischen Grundriss, über axonometrische Darstellungen bis zum architektonischen Spaziergang. Dies zeugt von einem Wandel in Le Corbusiers grundsätzlicher Haltung zur Architektur. Sie hat nicht mehr die Funktion, verschiedene Elemente eines Baus zu einer harmonischen Einheit zu verbinden. Vielmehr ist Architektur etwas Ganzheitliches – eine Abfolge von Ereignissen.