Le Corbusier
118 - Stier XI, 1956
Öl auf Leinwand, 133 x 166 x 7 cm
Fondation Le Corbusier, Paris

«Durch ständiges Zeichnen und Neuzeichnen wurde der Ochse aus Kieselsteinen und Wurzeln zu einem Stier.»
Dies ist nur eine Erzählung unter mehreren, die von Le Corbusier im Zusammenhang zu seinen Stier-Bildern überliefert ist. Ein Holzstück und ein Kiesel verbunden mit dem Blick auf einen Ochsen, den er in den Pyrenäen durchs Fenster sieht, sollen ihn zum Motiv des Stiers geführt haben. In einer anderen Erzählung beschreibt Le Corbusier, wie er eines seiner Gemälde drehte und dann die so sichtbar gewordenen Linien skizzierte. In dieser Skizze glaubte er, die Form eines Stieres zu erkennen. An anderer Stelle erwähnt er einen Bezug zu seiner Frau Yvonne, die 1957 stirbt. Alle Erzählungen beschreiben vor allem Le Corbusiers Arbeitsweise des steten Suchens und Sich-Inspirieren-Lassens.
Fast während der gesamten 1950er Jahre beschäftigt sich Le Corbusier mit dem Stier. Der Stier als Motiv in der Malerei ist eigentlich nicht überraschend. Zahlreiche Kunstschaffende, allen voran Pablo Picasso, haben sich damit auseinandergesetzt. Es ist ein vieldeutiges Motiv, das in Bildern und Texten von der Antike bis in die Gegenwart immer wieder auftaucht. Le Corbusier erforscht das Motiv in rund 200 Zeichnungen und Studien, 15 Gemälden, 3 Skulpturen sowie etlichen anderen Werken.
Im Bild «Stier Nr. 11» von 1956 sind Kopf und Schnauze des Stiers auf der rechten Bildseite in der blauen Fläche zu sehen. Links und rechts oberhalb des Stierkopfes sind die Hörner dargestellt. Der Körper des Tieres ist im Profil als braune Fläche gemalt, die sich nach links ausbreitet. Über und unter dem Stier taucht eine weitere Figur auf – wahrscheinlich eine Frau. Die zwei Kreis- oder Spiralformen unter dem Stierkopf könnten Brüste sein, sie erinnern aber auch an das Unendlichkeitssymbol. Auch diese Formen tauchen in vielen Stier-Bildern von Le Corbusier auf. Die Figuren von Stier und weiblicher Figur überlagern sich – sie sind kaum zu trennen. Dies könnte ein Hinweis auf den antiken Mythos des Stier-Menschen Minotaurus sein. Dieser wird von Pasiphae, der Frau des Königs Minos, geboren. Stier und Frau könnten auch ganz einfach für das Männliche und das Weibliche stehen – für Schaffenskraft und Schöpfung.