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Paul Klee

212 - Und ach, was meinen Kummer noch viel bitterer macht ist, dass Du nicht einmal ahnen magst, wie mir ums Herz ist, 1916

Und ach, was meinen Kummer noch viel bitterer macht ist, dass Du nicht einmal ahnen magst, wie mir ums Herz ist

1916 werden das Ausmass und die Grausamkeit des Ersten Weltkrieges immer deutlicher. Auch Paul Klees Leben und Schaffen sind vom Krieg geprägt. Freunde sterben an der Front und er selbst wird als deutscher Staatsbürger eigenzogen. In seinen Werken setzt er sich zum Teil konkret mit dem Kriegsgeschehen auseinander, teils aber auch nur indirekt wie in diesem Aquarell. Es ist Teil einer kleinen Serie von sechs Schriftbildern, die in dieser Zeit entstehen. In Grossbuchstaben schreibt Klee einen Text auf das Blatt. Die Linien der Buchstaben bilden Flächen, die er mit transparenter Aquarellfarbe ausmalt. Die Bildteile ausserhalb des Textes gestaltet er ebenfalls mit mehr oder weniger geometrischen farbigen Flächen. Die Farben sind meist zurückhaltend, nur an einigen Stellen leuchten bunte Farbakzente hervor – insbesondere in zwei hellblauen Dreiecken.

Klee verwendet hier als Text zwei Zeilen des längeren Gedichtes «Die einsame Gattin» des chinesischen Lyrikers Wang Seng Ru. Die gesamte Strophe lautet folgendermassen:

«Hoch und strahlend steht der Mond; ich habe meine Lampe ausgeblasen,
und tausend Gedanken erheben sich von meines Herzens Grunde.
Meine Augen strömen über von Tränen.
Und ach, was meinen Kummer noch viel bitterer macht,
Ist, dass du nicht einmal ahnen magst, wie mir ums Herze ist!»

Wang Seng Ru beschreibt die Traurigkeit einer einsamen Gattin ohne ihren Ehemann im Schlafzimmer. Vor allem in Kriegszeiten war diese Gedichtgattung in China sehr beliebt. Die Gedichte befassen sich meist mit der Sehnsucht einer Frau nach ihrem Ehemann, während dieser im Kriegsdienst ist. Das Gedicht kennt Klee aus einem Buch mit chinesischen Gedichten, das bereits seit einiger Zeit in seinem Besitz war. 1916 – während des Krieges – scheint das Thema dieser Gedichtgattung für ihn erst aktuell zu werden. Gleichzeitig ist das Interesse für die chinesische Kultur und den Taoismus mit seiner pazifistischen Haltung in den Kriegsjahren weit verbreitet. So könnte dieses Werk Klees Kommentar zu den Schrecken und Folgen des Ersten Weltkriegs sein.