Digital Guide

Anni Albers

115 - Six Prayers, 1965/66

Baumwolle, Leinen, Bast und Lurex, 186.1 x 297.2 cm

The Jewish Museum, New York, Gift of the Albert A. List Family

Anni Albers, Six Prayers

Six Prayers ist eine der letzten Webarbeiten von Anni Albers. Das Jewish Museum in New York lädt die Künstlerin 1965 ein, eine Arbeit in Gedenken an die sechs Millionen Holocaust-Opfer des Zweiten Weltkriegs zu gestalten. Es soll ein Mahnmal werden. Damit unterscheidet es sich von ihren Arbeiten für Synagogen und andere sakrale Räume. Zudem ist Albers selbst jüdischer Abstammung. Sie selbst äussert sich zu Six Prayers sehr bescheiden:

«Six Prayers ist keine grossformatige Arbeit, sondern vom Entwurf und von den Details her eher intim. Ich hoffe jedoch, dass der Gesamteindruck der Würde des Themas angemessen ist.»

Anni Albers entwickelt ein Werk aus sechs hochformatigen Stoffbahnen. In sieben Monaten webt sie die sechs Teile. In der Farbigkeit bleibt sie mit Fäden in Beige, Schwarz, Weiss und Silber sehr zurückhaltend. Die Fäden sind aus Baumwolle, Leinen und Bast sowie aus silbernem Metallgarn, das je nach Lichteinfall schimmert. Der Farbton variiert bei allen sechs Bildteilen. Mit weissen und schwarzen Fäden überzieht sie in dichten schwingenden, mäandrierenden Linien die Bildfelder. Die Linien erinnern an Text und bleiben doch unlesbar. Vielleicht ein Hinweis auf die Sprachlosigkeit gegenüber einem Ereignis wie dem Holocaust.

Albers sieht abstrakte Webereien mit Blick auf die Tradition in den Andengebieten als Vermittlerin von Bedeutung – also als eine Art Sprache. Die individuell sich schlängelnden Linien mahnen aber auch an die sechs Millionen Einzelschicksale. Der Kunsthistoriker Maurice Berger beschreibt das Werk so:

«Gleichsam schwebend in der verhaltenen Stille der Abstraktion sind die wandernden Fäden wie Texte, die sich über die schriftrollenartigen Stoffbahnen ausbreiten und die begrenzten Möglichkeiten der Sprache durch eine universellere Form der Elegie ersetzen.»

1967 wird Six Prayers erstmals im Foyer des Jüdischen Museums in New York ausgestellt.