Anni Albers
119 - Open Letter, 1958
Baumwolle und Leinen, 58.1 x 61.0 cm
The Josef and Anni Albers Foundation, Bethany, CT

Dies ist eines von zahlreichen Werken von Anni Albers, das an Schrift erinnert. Der Titel Open Letter – offener Brief – macht diese Verbindung deutlich. Die Künstlerin suggeriert damit, dass bildnerische, abstrakte Werke eine Kommunikation mit den Betrachtenden eingehen können. In ihrem Buch On Weaving schreibt Albers über Textilien als Mittel, Bedeutung zu vermitteln:
«Neben Höhlenmalereien gehörten Fäden zu den frühesten Vermittlern von Botschaften. In Peru, wo sich selbst zur Zeit der Eroberung im 16. Jahrhundert noch keine Schrift im allgemein verständlichen Sinne entwickelt hatte, finden wir – meiner Meinung nach nicht trotz, sondern gerade deswegen – eine der höchsten Textilkulturen, die wir kennen.»
Diese Verbindung von Webkultur und Vermittlung von Bedeutung zeigt sich in den Tocapu-Textilien der Inka. Diese verwenden Piktogramme und Idiogramme besonders faszinierend: Eine Vielzahl kleiner rechteckiger oder quadratischer Felder enthält unterschiedliche Formen und Figuren, wodurch eine dichte, äusserst vielfältige Komposition entsteht. Die Textilien wirken wie komplexe Texte, ähnlich den ägyptischen Hieroglyphen.
In Werken wie dem hier ausgestellten Open Letter von 1958 arbeitet Anni Albers mit derartigen Kompositionsprinzipien. Mit schwarzen und weissen Fäden aus Baumwolle, Wollbouclé und Leinen webt sie eine komplexe Struktur, in der keine klare Regel entdeckt werden kann. Vielmehr scheint die Komposition frei und spontan gegliedert. Trotzdem wirkt die Abfolge der hellen und dunklen rechteckigen Flächen und Linien mit wechselnden Zeichen rhythmisch. Die Struktur erinnert eher an eine geheimnisvolle Zeichensprache als an Sätze oder Abschnitte eines Textes wie in anderen ihrer Werke. Genauso vielfältig wie die Komposition ist die Materialität: von den dicht gewobenen Teilen bis zu den Fransen am oberen und unteren Rand.