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A 1     Lernen aus der Vergangenheit

Frühe Studienreisen

Charles-Edouard Jeanneret wächst in La Chaux-de-Fonds in der Region Jura auf. Die Stadt ist damals ein weltweit führender Standort der Uhrenindustrie. Die raue Landschaft und die protestantische Industriegesellschaft, in der Disziplin, Fleiss und Präzision, aber auch Innovation gefragt sind, prägen ihn.

Jeanneret absolviert an der Kunstschule von La Chaux-de-Fonds eine Ausbildung als Dekorateur von Uhrengehäusen. Sein Lehrer, der Jugendstilkünstler Charles L’Eplattenier, stellt das Naturstudium ins Zentrum der Ausbildung. Gleichzeitig ermuntert er Jeanneret zur Beschäftigung mit Architektur als Möglichkeit einer umfassenden Gestaltung der Lebenswelt.

Zwischen 1907 und 1911 unternimmt Jeanneret längere Reisen durch Europa und den Mittelmeerraum, um sich Kenntnisse der Kunst-, Kultur-, Industrie- und Architekturgeschichte anzueignen. Er reist unter anderem nach Italien, Österreich, Frankreich, Deutschland, auf den Balkan, nach Griechenland und in die Türkei. Seine Beobachtungen hält er in zahlreichen Zeichnungen und Aquarellen fest. Das Zeichnen behält für ihn zeitlebens eine zentrale Bedeutung als Methode, Dinge zu studieren und zu analysieren, sie auf das Wesentliche zu reduzieren und daraus neue Ideen entstehen zu lassen.

Jeanneret setzt sich intensiv mit der Architektur der Vergangenheit auseinander, insbesondere der Antike. Er studiert historische Bauwerke und Monumente und Stadtlandschaften. Er interessiert sich aber auch für das Brauchtum und volkstümliche Architekturtraditionen, die von den Kunstakademien nicht beachtet werden.

1 Ohne Titel (Säulen des Parthenons von Athen)

Von kaum einem Gebäude fertigt Jeanneret so viele Skizzen an wie vom Parthenon auf der Akropolis in Athen. Der griechische Tempel mit seinen klaren Strukturen und Formen verkörpert für ihn die perfekte Harmonie zwischen Funktion und Ästhetik. Sein dominanter Platz in der Landschaft beeindruckt ihn. Er sieht den Bau als zeitlose Errungenschaft menschlicher Zivilisation. Jeanneret lobt auch die Verwendung von standardisierten Bauelementen wie etwa den dorischen Säulen, die in regelmässigen Abständen angeordnet sind. Der Parthenon verkörpert für ihn die Prinzipien, die er in der modernen Architektur anstrebt.

2 ohne Titel (Blick vom Bosporus)

Jeanneret verbringt 1911 mehrere Wochen in Istanbul. Er ist fasziniert von der einzigartigen Skyline und den historischen Bauwerken wie der Hagia Sophia, der Blauen Moschee und dem Topkapi-Palast. Er nimmt die Stadt als eine harmonische Verbindung von Natur und Architektur wahr. Von der byzantinischen und osmanischen Architektur nimmt er später verschiedene Einflüsse auf, insbesondere die klaren geometrischen Formen und den raffinierten Umgang mit dem Licht.

3 Reisetagebuch

Die Eindrücke seiner Reisen von 1907–1911 hält Jeanneret in zahlreichen Skizzenbüchern fest. Die Zeichnung ist für ihn ein Mittel, das Gesehene festzuhalten, zu ordnen und zu verstehen. Er beschäftigt sich mit Architektur, Kunst, Landschaft, Kulturgeschichte und lokaler Alltagskultur sowie mit dem Erlebnis des Reisens an sich. Die Angewohnheit, in Form von Zeichnungen ein Reisetagebuch zu führen, behält er sein Leben lang bei.

4 Ohne Titel (Landschaft am Meer)

In seinen frühen Zeichnungen und Aquarellen setzt sich Jeanneret oft mit der Natur auseinander. Viele Werke zeigen sein Interesse für räumliche Strukturen und Phänomene. Die Beschäftigung mit der Landschaft nimmt auch in seinem Studium eine zentrale Rolle ein. Der mäandernde Wasserlauf, der Blick auf den Horizont, die Sicht auf das Meer und der natürliche Lauf der Dinge sind Themen, die sowohl in seiner Architektur wie in seiner Kunst immer wieder auftauchen.

5 Vers une architecture. La leçon de Rome

Die einfachen und ausgewogenen Formen der antiken römischen Architektur – Kuppeln, Pyramiden und Quadrate – bewundert Jeanneret auf seiner Reise nach Italien. 1923 bringt er dies in seinem Buch Vers une architecture zum Ausdruck. Er kritisiert aber auch die Verunstaltung dieser «reinen Volumen» durch zu viele dekorative Elemente, wie beispielsweise Akanthusblätter (Ornamente) an korinthischen Säulen. Das Rom der Renaissance und des Barocks nennt er gar einen «Gräuel». Um sein Buch zu illustrieren, nutzt er Bildmaterial aus damals gängigen Reiseführern.

6 Vers une architecture. Pure création d’esprit

Jeannerets intensive Beschäftigung mit der Architektur der griechischen Antike kommt Jahre später u.a. in einem Kapitel von Vers une architecture zum Ausdruck. Jeanneret benutzt Bildmaterial des Parthenons auf der Akropolis von Athen, um die Bedeutung «natürlicher» Proportionen zu verdeutlichen. Das Befolgen dieser Gesetzmässigkeiten macht die Architektur zu einer reinen und zeitlosen «Schöpfung des Geistes» – und die Architektur zur Kunst.

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