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C 1     Der Bruch mit der Tradition

Auf der Suche nach neuen Grundlagen der Architektur

Charles-Edouard Jeanneret entwirft in seiner Heimatstadt La Chaux-de-Fonds dank der Vermittlung seines Lehrers L’Eplattenier zunächst Häuser und Interieurs in einer regional geprägten Form des Jugendstils, obwohl er nicht als Architekt ausgebildet ist. 1917 zieht er schliesslich nach Paris. Dort gibt er die Zeitschrift L’Esprit Nouveau heraus. Darin nutzt er erstmals das Pseudonym «Le Corbusier», um seine Ideen zu verbreiten.

Die mit «Le Corbusier» gezeichneten Architekturaufsätze finden eine so starke Resonanz, dass er diese 1923 unter dem Titel Vers une architecture in Buchform herausgibt. Bis heute gilt das Buch als wegweisendes Manifest der Architekturgeschichte. Le Corbusier verarbeitet darin die Eindrücke seiner Bildungsreisen. Er greift auf viele gesammelte Bilder und Skizzen zurück, um seine Theorie der modernen Architektur zu illustrieren.

Sein Buch ist ein provokativer Angriff auf die damaligen Konventionen und die Kunstakademien. Er fordert eine völlig neuartige Architektur, welche die Errungenschaften der modernen Industriegesellschaft berücksichtigt, schön und praktisch ist und im Dienst des Menschen steht. Das Leben in den Städten kritisiert er als menschenfeindlich und ungesund; die Architektur des 19. Jahrhunderts als überladen und nicht den Bedürfnissen der modernen Zeit entsprechend.

Die Erzählung des Buches entfaltet sich auch über die Bilder. So stellt Le Corbusier Aufnahmen des Parthenon-Tempels Aufnahmen von Autos gegenüber. Die neue Architektur und Stadtplanung sollte die Qualitäten der beiden verbinden: rational und standardisiert wie ein Auto oder ein Flugzeug, aber zeitlos schön wie die Architektur der Antike.

1 Charles Marville, Paris im 19. Jahrhundert

Zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert herrschen in vielen Industriestädten Europas prekäre Lebensbedingungen. Menschen leben in überfüllten und schlecht gebauten Häusern ohne sanitäre Anlagen und ohne Zugang zu Licht, frischer Luft und Erholung. Infolge der schlechten sanitären Zustände kursieren Krankheiten wie Tuberkulose oder Cholera.

Als Jeanneret 1917 nach Paris zieht, ist die Stadt zwar bereits durch radikale Eingriffe modernisiert worden: Der Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann baute in den 1850er und 1860er Jahren grosse Boulevards. Dennoch bestehen weiterhin viele Viertel aus engen Gassen und dunklen Hinterhöfen.

Jeanneret sieht eine Ursache für die sozialen Unruhen ihrer Zeit in der historischen Baustruktur. Der Wunsch, diese zu überwinden und damit einen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung zu leisten, liegt der modernen Architektur und dem Städtebau zugrunde.

2 Ohne Titel (Interieur mit kleinem Fenster und blauem Tisch)

Dieses spärlich eingerichtete Zimmer erinnert an eine Mönchszelle in einem Kloster. Die Idee, das Leben auf das nötigste zu beschränken und von überflüssigem Ballast zu befreien, fasziniert Le Corbusier. Auch hegt er eine Faszination für mittelalterliche Klosterarchitektur. Später benutzt er den Begriff der «Zelle im menschlichen Massstab», um seine Vorstellung einer modernen Wohnung zu beschreiben. Auf beschränktem Platz zu wohnen ist eine Notwendigkeit in vielen Städten, wo Wohnraum begrenzt ist. In der räumlichen Beschränkung sieht Le Corbusier aber auch die Chance, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Ablenkungen zu vermeiden.

3 Ohne Titel (Rote Blumen durch ein Fenster gesehen)

Le Corbusier steht den historisch gewachsenen Städten kritisch gegenüber, da es dort in der Regel kaum Grünflächen gibt. Die meisten Menschen blicken von ihren Fenstern an Häuserwände oder in düstere Innenhöfe und Lichtschächte. Die architektonischen und städtebaulichen Ideen Le Corbusiers haben gemein, dass sie grosse Fenster, grosszügige Grünflächen und Zugang zu Licht und offenen Räume für alle vorsahen. Dies sind für ihn Grundvoraussetzungen für ein «gesundes» Leben. Dieses frühe Werk, das den freien Blick durchs Fenster auf die Natur und die Hügelketten des Jura zeigt, nimmt diese zentrale Thematik vorweg. Es entsteht vermutlich in der Umgebung von La Chaux-de-Fonds.

4 Richard Pare, Fotografien, 2011–2018

Seine ersten Erfahrungen als Architekt macht Jeanneret in seiner Heimatstadt La Chaux-de-Fonds, obwohl er über keine Ausbildung als Architekt verfügt. Die Stadt ist um 1900 ein bedeutendes Zentrum der internationalen Uhrenindustrie. Es besteht deshalb eine Nachfrage nach repräsentativen Villen für wohlhabende Industrielle. Durch Vermittlung seines Lehrers, Charles L’Eplattenier, kommt Jeanneret 1906 zu seinem ersten Bauauftrag. Er realisiert bis 1917 fünf weitere Villen und ein Kino. Auch für seine Eltern baut er eine Villa. Seine frühsten Häuser sind Chalets im regionalen Jugendstil. Aber schon in La Chaux-de-Fonds integrierte er neuartige Gestaltungs- und Konstruktionsprinzipien wie Stützen und Flachdächer. Als 1929 jedoch der erste Band seines Werkkatalogs erscheint, bleiben diese frühen Bauten unerwähnt – vermutlich deshalb, weil sie noch nicht dem von ihm propagierten Bruch mit der Tradition entsprechen.

5 Vers une architecture. Le volume

In diesem ersten Kapitel setzt sich Le Corbusier mit dem «Volumen», also der räumlichen Form der Architektur auseinander. Er erklärt, dass Architektur nichts mit «Stilen» zu tun habe, sondern das «kunstvolle Spiel der unter dem Licht versammelten Volumen» sei. Er nimmt damit eine kritische Haltung gegenüber der Architekturtradition seiner Zeit ein, die sich vor allem an verschiedenen Stilen orientiert: Jugendstil, Neoklassizismus, Neogotik, Nationalstil und so weiter.

Volumen, die der Mensch als angenehm empfinde, seien Kuben, Kegel, Kugeln, Zylinder oder Pyramiden. Diese nehme man klar und eindeutig wahr. Le Corbusier illustriert dies mit Darstellungen amerikanischer Getreidesilos, die sich aus genau diesen Formen zusammensetzen, aber kaum als Beispiele ästhetisch wertvoller Architektur gelten. In einigen Fällen hat er das Bildmaterial bearbeitet und retuschiert, um störende dekorative Elemente zu entfernen.

6 Vers une architecture. Les tracés régulateurs

In diesem Kapitel beschäftigt sich Le Corbusier mit der historischen Bedeutung der Geometrie in der Architektur und erhebt diese zu einem zentralen Prinzip der neuen Architektur. Geometrie sei ein Urinstinkt des Menschen, schreibt er - alles andere sei Beliebigkeit. Seit Menschengedenken würden in der Architektur tracés régulateurs («regulierende Linien») genutzt: Diese dienten dazu, Gebäude und Fassaden harmonisch zu gliedern. Dadurch befriedigten sie das tiefe Bedürfnis der Menschen nach Ordnung und Harmonie. Le Corbusier zeigt dies anhand von historischen Beispielen wie der Kathedrale Notre-Dame in Paris oder dem Schloss Petit Trianon von Versailles.

7 Vers une architecture. Les yeux qui ne voient pas

In diesem Kapitel bewundert Le Corbusier die Effizienz, Funktionalität und Schönheit moderner Autos und sieht sie als Vorbilder für die Architektur. Er lobt die Automobilindustrie und die Ingenieurskunst für ihre Fähigkeit, funktionale und ästhetisch ansprechende Maschinen zu schaffen. Durch die Verwendung standardisierter Bauelemente könne die Architektur revolutioniert werden, was zu effizienteren und kostengünstigeren Bauten führen würde.

Le Corbusier argumentiert weiter, dass die Form eines Autos direkt aus seiner Funktion resultiert. Diese Prinzipien sollten auch in der Architektur angewendet werden, um Gebäude zu schaffen, die funktional und schön sind. Er vergleicht moderne Autos sogar mit der klassischen griechischen Architektur. Der geheimnisvolle Untertitel Des yeux qui ne voient pas («Augen, die nicht sehen») bezieht sich auf die Architektur seiner Zeit, die gegenüber den Errungenschaften der Ingenieurskunst blind sei.

8 Vers une architecture. Architecture ou révolution

Im fulminanten Schlusskapitel von Vers une architecture beschwört Le Corbusier die widrigen Zustände in den Städten herauf. Gleichzeitig reagiert er auf die akute Bedrohung einer gewaltsamen Revolution nach dem Vorbild Russlands.

Die industrielle Entwicklung habe die Lebensumstände der Menschen komplett verändert und die Menschen ihrem traditionellen Lebensumfeld entrissen. Diese Veränderungen reichten von der Arbeitsorganisation bis zum Familienleben. Was sich jedoch kaum verändert habe sei Gestaltung der Wohnungen und Städte. Der Mensch sehne sich nach Sonne und Luft, nach geistiger und körperlicher Ablenkung. Könne die Gesellschaft nicht auf diese Bedürfnisse reagieren, drohe die Revolution. Diese könne jedoch durch moderne, dem neuen Geist entsprechende Architektur verhindert werden.

9 La ville radieuse

In diesem reich illustrierten Buch legt Le Corbusier seine Visionen und Theorien zur Stadtplanung dar.

Die moderne Stadt müsse den Bedürfnissen der Menschen nach Licht, Luft und Raum und Ordnung gerecht werden. Le Corbusier schlägt radikale Veränderungen vor, einschliesslich des Abrisses von historischen Stadtteilen, um Platz für moderne Hochhäuser und breite Verkehrswege zu schaffen. Er sieht diese Massnahmen als notwendig an, um die Stadt an die Anforderungen der modernen Zeit anzupassen. Da solche tiefen Eingriffe in das Lebensumfeld der Menschen nur mit einer grossen Machtfülle möglich sind, führt Le Corbusier das Buch mit einem Lob der Macht ein: das Buch sei «der Autorität gewidmet».

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