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C 2     Die Geometrie des Fortschritts

Die Architektur der 1920er Jahre

1922 eröffnet Le Corbusier zusammen mit seinem Cousin Pierre Jeanneret ein Architekturbüro in Paris. Gemeinsam entwerfen und realisieren sie eine Reihe von Villen und Gebäudekomplexen. Diese zeichnen sich durch einen schlichten Charakter, eine kubische Formensprache und eine unkonventionelle Anordnung der Innenräume aus, die ein «fliessendes» Raumerlebnis ermöglicht.

1927 veröffentlicht Le Corbusier die Fünf Punkte zu einer neuen Architektur: 1. Stützen, die das Gebäude vom Boden abheben und es so ermöglichen, die Grundfläche eines Gebäudes für andere Zwecke zu nutzen. 2. Flachdächer, die als Garten genutzt werden können. 3. Der freie Grundriss und die flexible Einteilung der Räume im Inneren, was durch den Einsatz von Stützen erst möglich wird. 4. Der Einsatz horizontaler Fensterbänder anstelle von Einzelfenstern, um maximale Belichtung zu gewährleisten. 5. Die freie Fassadengestaltung, da die Fassade von der tragendenden Struktur des Gebäudes unabhängig ist.

Le Corbusier steht im Austausch mit anderen Vordenkern modernistischer Architektur, darunter Theo van Doesburg von der Holländischen De Stijl-Bewegung, dem russischen Konstruktivisten Moissei Ginsburg oder Walter Gropius vom Bauhaus und Mies van der Rohe vom deutschen Werkbund. Deren architektonischen Konzepte überschneiden sich teilweise mit denjenigen Le Corbusiers. Aufgrund seiner Fähigkeit, seine Ideen einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, wird die Architektur Le Corbusiers allerdings rasch als einzigartige Verkörperung des Aufbruchs in die Moderne wahrgenommen.

1 Perspektivische Ansicht der Quartiers Modernes Frugès in Pessac

Das Quartier Frugès ist ein Wohnprojekt von Le Corbusier und Pierre Jeanneret, das zwischen 1924 und 1926 in Pessac, einem Vorort von Bordeaux, realisiert wird. Es ist ihr erster Versuch, eine grössere Wohnsiedlung umzusetzen. Die Überbauung wird vom Industriellen Henri Frugès in Auftrag gegeben, um günstige, standardisierte Arbeiterwohnungen zu schaffen. Das Projekt soll ursprünglich über hundert Häuser verschiedener Typen und Farben umfassen, umgesetzt wird aber nur die Hälfte. Die Wohneinheiten stehen nach Vollendigung einige Jahre leer, da Henri Frugès insolvent wird und die Siedlung nicht an die Wasserwerke angeschlossen wird. Später passen die Bewohner:innen die Häuser und Wohnungen durch bauliche Eingriffe ihren Bedürfnissen und den traditionelleren Baustilen an.

2 Axonometrie der Maison Cook

Anfangs des 20. Jahrhunderts werden axonometrische Zeichnungen zu einer bevorzugten Darstellungsweise in der modernen Architektur. Bis dahin wurde Architektur vor allem in Form von Grundrissen, Querschnitten, Perspektivenzeichnungen oder in Frontalansichten gezeichnet. Die Axonometrie erlaubt es, die Seiten des Gebäudes und die Innenräume gleichzeitig zu zeigen. Die Darstellung ist unabhängig von einer sichtbaren Perspektive und schwebt scheinbar frei im Raum. Diese Darstellungstechnik ist u.a. bei der holländischen De Stijl-Bewegung beliebt, von der Le Corbusier beeinflusst ist.

3 Modell des Dom-Ino

Das Dom-Ino-Haus ist ein Konzept für eine Gebäudestruktur, das Le Corbusier zwischen 1914 und 1915 in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Max Dubois entwirft. Es soll im Zuge des Wiederaufbaus nach dem ersten Weltkrieg Anwendung finden, um möglichst schnell und günstig viele Häuser errichten zu können. Der Name ist ein Wortspiel: Er setzt sich aus den Wörtern «domus» (lateinisch für Haus) und «Innovation» zusammen und bezieht sich gleichzeitig auf das Legespiel Domino.

In Le Corbusiers Vorstellung können die Wohneinheiten wie Dominosteine hintereinander aufgestellt werden, um Reihenhäuser in Massenanfertigung zu erstellen. Die Gebäudelast wird von Betonpfeilern getragen. Dadurch sind die Wände im Inneren frei platzierbar, wodurch die Innenarchitektur an die Bedürfnisse der Bewohnenden angepasst werden kann. Heute werden ähnliche Bauweisen weltweit verwendet, da diese ermöglichen, schnell und kostengünstig Wohnraum zu errichten.

4 Fassade des Maison-Atelier Ozenfant mit «tracés régulateurs»

Um Fassaden zu entwerfen, nutzt Le Corbusier geometrische Hilfslinien, die er «tracés régulateurs» («regulierende Linien») nennt. Diese Linien helfen ihm, asymmetrische, aber dennoch harmonische und ausgeglichene Fassaden zu gestalten. Die Technik, die aus der klassischen Proportionslehre stammt, verwendet er auch in seiner puristischen Malerei, um die Bildfläche zu gliedern. Der Entwurf zeigt die Fassade des Atelierhauses, das Le Corbusier für seinen Freund, den Künstler Amédée Ozenfant, baut, mit dem er den Purismus entwickelt hat.

5 Brief an Madame Meyer

Le Corbusier fertigt diesen Entwurf für eine Klientin an, um ihr seine Idee für ihr Haus zu vermitteln. Mithilfe einer Reihe von Zeichnungen führt er die Auftraggeberin durch das Gebäude. Der Entwurf erinnert an einen Comic oder an einen Film. Er veranschaulicht Le Corbusiers Konzept einer promenade architecturale, eines «architektonischen Spaziergangs». Dieser Begriff beschreibt die Idee, dass sich Architektur aus einer Vielzahl von Raumerlebnissen zusammensetzt. Anstatt die Fassade des Gebäudes in den Vordergrund zu stellen, steht hier das Gebäudeinnere und das räumliche Erlebnis im Vordergrund, das sich einem dadurch erschliesst, dass man sich durch das Gebäude bewegt.

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