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C 3     Die Welt nach Plan

Städtebauliche Visionen

Schon früh beginnt sich Le Corbusier für den Städtebau zu interessieren. Im Städtebau verbindet sich die Architektur mit der Frage der Organisation der Gesellschaft. Le Corbusier blickt kritisch auf die historisch gewachsenen Städte. Seine städtebaulichen Visionen zielen darauf ab, die engen, dunklen und unhygienischen Wohnverhältnisse der Vergangenheit zu überwinden und so die Gesellschaft zu verbessern.

In den 1920er Jahren entwickelt Le Corbusier eine Theorie des Städtebaus, die auf klaren geometrischen Formen, moderner Hochhausarchitektur, grossräumigen Grünflächen und einer Aufteilung der Stadt in Zonen mit verschiedenen Funktionen basiert. Le Corbusier lebt in einer Zeit grosser Instabilität, wirtschaftlicher Krisen und revolutionärer Forderungen. Er glaubt, dass eine radikale Neuordnung der Städte soziale Spannungen abbauen und Wohlbefinden der Menschen fördern könne. 

Le Corbusier sieht den Städtebau als Aufgabe, im Auftrag der Politik Lebensraum für Millionen von Menschen zu errichten und damit den Fortschritt zu ermöglichen. Seine frühen Stadtutopien greifen den damals in modernistischen Kreisen weit verbreiteten Traum auf, die Welt rational und nach «wissenschaftlichen» Kriterien neu zu ordnen. Le Corbusiers Visionen werden allerdings nie direkt realisiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg müssen viele Städte in Europa wieder aufgebaut werden und es herrscht Wohnungsknappheit. In vielen Ländern werden städtebauliche Ideen angewandt, die von Le Corbusier beeinflusst sind, insbesondere im sozialen Wohnungsbau. Le Corbusier selbst erhält zwar keine grösseren städtebaulichen Aufträge vor 1950, er entwirft aber nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Unité d’Habitation ein grosses kommunales Bauprojekt, das er als «vertikale Gartenstadt» konzipiert.

1 Plan von La Chaux-de-Fonds

La Chaux-de-Fonds, die Geburtsstadt Le Corbusiers, ist eine der wenigen im geometrischen Muster errichteten Planstädte der Schweiz. Der moderne Stadtplan steht in engem Zusammenhang der Stadt mit ihrer Funktion als Zentrum der Uhrenindustrie. Die geometrische Struktur ermöglichte es, den Raum effizient zu nutzen und die langen Fensterreihen der Häuser optimal auszurichten, um das notwendige Licht für präzises Arbeiten zu gewährleisten. Auch wenn sich Le Corbusier nie direkt zu diesem Thema äusserte, liegt die Vermutung nahe, dass sein städtebauliches Denken von der Struktur von La Chaux-de-Fonds angeregt war.

2 Der Modulor

Der Modulor ist ein zwischen 1942 und 1955 von Le Corbusier entwickeltes, standardisiertes Masssystem, das sich als Alternative zum metrischen System und zum imperialen System versteht. Le Corbusier will dadurch die internationale Standardisierung technischer und architektonischer Bauelemente vorantreiben.

Der Modulor basiert auf angenommenen durchschnittlichen menschlichen (männlichen) Massen und dem goldenen Schnitt. Das Schema zeigt eine stilisierte Figur mit erhobenem Arm, flankiert von zwei vertikalen Skalen. Die rote Skala basiert auf der Nabelhöhe (1,13 Meter), und die blaue Skala entspricht der doppelten Nabelhöhe (2,26 Meter).

Le Corbusier nutzt dieses Mass, um die Proportionen von Räumen und Gebäuden so zu gestalten, dass sie sowohl funktional als auch ästhetisch ansprechend sind. Dieses System führt zu harmonischen proportionierten Massen, die aber im Vergleich zu heutigen Standards klein wirken.

3 Modulor-Massstudie

Die Suche nach dem Modulor-Masssystem ist ein langer Prozess mit vielen Beteiligten. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Kunsthistorikerin Elisa Maillard, die ein Buch über den Goldenen Schnitt veröffentlicht hat und Le Corbusier beratend zur Seite steht: Ihre komplexe Zeichnung aus Kreisen, Schnitten und Quadraten liefert Le Corbusier die Grundlage für sein harmonisches Masssystem.

4 Modulor-Massstudie

Mit dieser Zeichnung, die er als «Spiel» bezeichnet, zeigt Le Corbusier die unendlichen Möglichkeiten des Modulor-Masssystems dar: Eine Fläche lässt sich auf die verschiedensten Arten aufteilen. Praktisch kann dies zum Beispiel bei der Aufteilung von Fensterflächen angewandt werden.

5 La ville radieuse (Skizze der getrennten Verkehrswege)

Le Corbusier ist überzeugt, dass hindernisfreier Verkehr für das Funktionieren einer Stadt massgeblich ist. Der Verkehr soll in einer Stadt zirkulieren wie das Blut im Körper. Der Plan der ville radieuse («strahlende Stadt») sieht deshalb getrennte Verkehrsachsen vor: Schnell- und Langsamverkehr sollten jeweils ihre eigenen Strassen bekommen, und Personen könnten sich gefahrlos auf Spazierwegen durch die Stadt bewegen.

6 Ilot insalubre n°6, Paris

Die «îlots insalubres» («ungesunde Inselchen») waren heruntergekommene und überbevölkerte Gebiete in Paris, die aufgrund der schlechten Wohnbedingungen als ungesund eingestuft wurden. Diese Gebiete wurden im frühen 20. Jahrhundert definiert und sollten auf Wunsch der Stadtverwaltung neugestaltet werden.

Le Corbusiers Plan für ein solches «ungesundes Inselchen» sieht vor, die bestehenden Bauten durch Hochhäuser zu ersetzen. Wie fast alle urbanistischen Vorschläge Le Corbusiers wird dieser Plan aufgrund von politischen und finanziellen Hindernissen nie umgesetzt.

7 Zeitgenössische Stadt für 3 Millionen Einwohner

Die ville contemporaine («zeitgenössische Stadt») von 1922 ist Le Corbusiers erster öffentlichkeitswirksamer Entwurf einer Stadt. Er ist nicht als konkreter Bebauungsplan gedacht, sondern als utopische Vision für eine neue Stadt und Gesellschaft im Geist der Avantgarde.

Diese Vision unterscheidet sich drastisch von allem damals bekannten. Das Zentrum der Stadt sollten riesige Hochhaussiedlungen aus Stahlbeton bilden. Diese sind von grünen Achsen umgeben. Die «zeitgenössische Stadt» treibt die damaligen technologischen Fortschritte auf die Spitze und verkörpert die Vision, die Menschen von den beengten Wohnverhältnissen der Industriestädte zu befreien - und die Gesellschaft nach rationalen Kriterien neu zu ordnen, um das Leben der Menschen zu verbessern. 

8 Unité d'habitation von Marseille

Die Unité d’habitation («Wohneinheit») ist ein von Le Corbusier entwickelter Typ des Wohnblocks, der als «vertikale Stadt» konzipiert ist. Das Konzept entsteht als Antwort auf den dringenden Bedarf an Wohnraum nach den Zerstörungen des 2. Weltkrieges. Le Corbusier möchte den Wiederaufbau nutzen, um eine neue Form des städtischen Wohnens zu schaffen, die sowohl den individuellen Bedürfnissen als auch dem Gemeinschaftsleben gerecht wird und so ein besseres Leben ermöglicht. Unités d’habitation werden zwischen 1947 und 1965 in Marseille, Rezé, Briey-en-Fôret, Firminy sowie in Berlin realisiert. Sie umfassen Einrichtungen wie Einkaufsstrassen und Hotels, Sporteinrichtungen und Kindergärten. Mit ihrer monumentalen Form, den Flachdächern und diversen Aufbauten erscheinen sie wie Passagierdampfer in der Landschaft.

9 Unité d’habitation von Marseille (Entwurf der Farbgestaltung der Fassade)

Die Farbgestaltung spielt in den Bauten Le Corbusiers eine wichtige Rolle. Le Corbusier entwickelt für die Schweizer Firma Salubra zwei Farbkollektionen, die erste 1931, die zweite 1959, bestehend aus gesamthaft 63 Farbtönen. Auch bei den Unités d’habitation kommen diese zum Einsatz. Die Loggien der Wohnungen wurden in kräftigen Farben wie Blau, Rot und Gelb gestrichen, um visuelle Akzente zu setzen und die Regelmässigkeit des Betonbaus zu durchbrechen. Auch in den Innenräumen werden Farben verwendet, um verschiedene Bereiche zu kennzeichnen und Orientierung zu bieten.

10 Unité d’habitation

Dieses Modell veranschaulicht das Bauprinzip der Unités d’habitation: Wie Schubladen oder Weinflaschen in ein Flaschenregal sind die unterschiedlich grossen Wohnungen in den Block eingeschoben. Die meisten Wohnungen sind als zweigeschossige Maisonette-Wohnungen konzipiert. Jede Wohnung erstreckt sich über zwei Geschosse, wobei das Wohnzimmer über eine doppelte Raumhöhe und eine für damalige – und auch heutige Verhältnisse – riesige Fensterfläche verfügt. Alle Wohnungen sind von der einen zur anderen Gebäudeseite durchgehend, was eine optimale Belichtung und Belüftung ermöglicht.

11 Die strahlende Stadt

In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren sind zahlreiche Architekt:innen aus westlichen Ländern in der Sowjetunion tätig. Sie beteiligen sich am Städtebau und träumen von der Möglichkeit, eine völlig neue Welt auf «rationaler» Grundlage erschaffen zu können. Auch Le Corbusier beteiligt sich und erarbeitet einen Vorschlag für die städtebauliche Entwicklung Moskaus.

Daraus entsteht die Vision der ville radieuse («Strahlende Stadt»). Dieser theoretische Stadtplan sieht verschiedene Stadtzonen vor: Geschäfts-, Wohn-, und Freizeitbereiche sind strikt getrennt. Verkehrsachsen für verschiedene Verkehrsmittel verbinden die verschiedenen Stadtteile. Grosse Grünflächen sollen für ein gesundes Wohnklima sorgen. Durch bauliche Verdichtung werden Frei- und Grünflächen maximiert. Das Modell wird nie vollständig verwirklicht, aber hat Einfluss auf verschiedene städtebauliche Projekte weltweit.

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