FAQ
Welche Haltung hatte Le Corbusier zum Faschismus?
Le Corbusier lebte in einer Zeit grosser Umbrüche und Revolutionen, totalitärer und autoritärer Ideologien und zweier Weltkriege. Um Aufträge zu erhalten, pflegte Le Corbusier deshalb opportunistische und oft scheinbar widersprüchliche Allianzen zu verschiedenen Mächten und politischen Strömungen. In den frühen 1930er Jahren stand er der Bewegung des Regionalsyndikalismus nahe (einer Form des Gewerkschaftssozialismus), gehörte jedoch nie fest einer Partei oder ideologischen Bewegung an und bezeichnete sich grundsätzlich als unpolitischen Menschen. Um seine Dienste zu bewerben, passte er seine Rhetorik dem jeweiligen politischen Umfeld an, blieb aber seinen architektonischen und städtebaulichen Überzeugungen treu.
Auf die Krisen der 1920er Jahre, darunter die Weltwirtschaftskrise von 1929, reagierten viele im intellektuellen Milieu Frankreichs mit der Forderung nach einer Stärkung des Staates und planwirtschaftlichen Interventionen in die Wirtschaft. Im Zuge dieses «Planismus» wurde die Forderung nach Bau- und Infrastrukturprojekten im grossen Stil laut, wie etwa in der Sowjetunion. Le Corbusier suchte den Kontakt zu politischen Gruppierungen und Regierungen von links bis rechts, die diese Haltung teilten und eine Umsetzung seiner Vorschläge in Aussicht stellten, obschon er selbst keine festen politischen Bindungen hatte und grundsätzlich nonkonformistisch veranlagt war. So war Le Corbusier beispielsweise in der Sowjetunion zur Zeit Stalins tätig und suchte fast zeitgleich den Kontakt zu Mussolini, der bis in die 1930er Jahre moderne Architektur förderte. Die künstlerische und intellektuelle Avantgarde stand der Demokratie damals oft kritisch gegenüber, da diese als handlungsunfähig erachtet wurde, den Krisen effizient zu begegnen und Fortschritte zu erzielen.
Le Corbusier war breit vernetzt und pflegte auch freundschaftliche Kontakte zu Personen, die den Faschismus propagierten, u.a. Philippe Lamour oder Georges Valois, die im Frankreich der 1920er Jahre kurzlebige faschistische Parteien gegründet hatten, und gab gemeinsam mit ihnen Avantgarde-Zeitschriften heraus. Diese nutzte er allerdings nicht zum Zweck politischer Äusserungen, sondern v.a. dazu, um seine städtebaulichen Ideen zu verbreiten. Die politischen Positionen von vielen Intellektuellen waren damals überdies in ständiger Bewegung: Sowohl Lamour wie auch Valois schlossen sich später der Résistance gegen die nationalsozialistische Besetzung Frankreichs an.
Le Corbusiers Arbeitspartner:innen in den frühen 1930er Jahren, wie Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand, standen politisch eher links. Er pflegte zu dieser Zeit aber auch Bekanntschaften mit dem rechten Arzt und «Hygienisten» Pierre Winter, oder dem Arzt und Nobelpreisträger Alexis Carrel, einem Vertreter der Eugenik – einer damals in vielen Ländern staatlich anerkannten und geförderten «Wissenschaft». Mit beiden teilte Le Corbusier die Idee, die Neuordnung der Städte könne die Gesellschaft gesundheitlich und moralisch verbessern. Dies war u.a. ein Grundanliegen des modernen Städtebaus und ein damals wichtiges sozialpolitisches Thema, das quer durch das politische Spektrum Unterstützung fand. Die Lebensbedingungen in vielen Städten waren schlecht, und in vielen Bezirken herrschten Infektionskrankheiten wie die Tuberkulose oder «Volkskrankheiten» wie der Alkoholismus.
Im Gegensatz zum Faschismus lehnte Le Corbusier gewaltsame politische Veränderungen ab. Dies brachte er in zahlreichen Publikationen zum Ausdruck, u.a. im Buch Vers une Architecture (1923), in dem er die damals latente Bedrohung einer Revolution heraufbeschwört und Architektur und Stadtplanung als Mittel proklamiert, soziale Spannungen zu entschärfen: «Architektur oder Revolution!». Auch Militarismus und Ultranationalismus lehnte Le Corbusier ab, was er 1938 u.a. im Buch Des canons, des munitions ? merci ! des logis. S.V.P. («Kanonen, Munition? Danke! Wohnungen bitte») zum Ausdruck brachte. Le Corbusier besass keine Bezüge zum Nationalsozialismus und war kein Anhänger Hitlers. In Nazideutschland wurde die von Le Corbusier entwickelte Architektur der Moderne als kommunistisch und internationalistisch verurteilt.
Wie handelte Le Corbusier im 2. Weltkrieg?
Die Wirtschaftskrise von 1929 hatte Le Corbusiers Hoffnung erschüttert, in Zusammenarbeit mit führenden
Persönlichkeiten der Wirtschaft und der Industrie grossangelegte Projekte umzusetzen. Stattdessen hoffte er auf Aufträge vom Staat und propagierte umfangreiche staatliche Interventionen als Lösungen der Krise. 1930 hatte Le Corbusier das französische Bürgerrecht erworben. 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, bot er, in Erwartung öffentlicher Aufträge, als überzeugter Patriot seine Dienste dem französischen Staat an und arbeitete für den Rüstungsminister Raoul Dautry unter der liberalen Regierung Daladier. Im Kontext der nationalsozialistischen Bedrohung nahm Le Corbusier den Auftrag für den Bau einer Munitionsfabrik an, die allerdings nicht mehr errichtet wurde.
1940 wurde ein Grossteil Frankreichs durch Nazideutschland besetzt. Le Corbusier flüchtete zunächst in das Dorf Ozon in den Pyrenäen. Nach der überraschenden und schockierenden Niederlage Frankreichs etablierte sich im nicht besetzten Süden unter Führung des Generals Pétain, der nach dem 1. Weltkrieg als Nationalheld verehrt wurde, das autoritäre und kollaborationistische Vichy-Regime (1940–1944), das in der Kleinstadt Vichy angesiedelt war. Mit dem Wunsch, die architektonische und städtebauliche Politik mitzugestalten, begab sich Le Corbusier 1940 nach Vichy und hielt sich rund 18 Monate dort auf. Er suchte den Kontakt zur politischen Führung, machte städtebauliche Vorschläge und wurde Mitglied verschiedener Ausschüsse, seine Tätigkeiten blieben aber auf administrative Aufgaben ohne Autorität beschränkt.
Nach dem Zusammenbruch der Französischen Republik glaubten viele, im Vichy-Regime eine Chance zu erkennen, die Souveränität Frankreichs zumindest teilweise zu bewahren. Der politische Diskurs in Vichy war von der Hoffnung eines Wideraufbaus Frankreichs geprägt, was Le Corbusier und andere Architekten anzog. Le Corbusier schlug in Vichy allerdings vor allem Misstrauen entgegen, und die Aufträge blieben aus – unter anderem auch deshalb, weil er von rechten Stimmen wie dem Schweizer Architekten Alexander von Senger oder dem französischen Kunstkritiker Camille Mauclair öffentlichkeitswirksam als Kommunist, als «trojanisches Pferd des Bolschewismus» und als Zerstörer von Tradition und Identität bezeichnet wurde. Das Vichy-Regime vertrat eine nationalistische und reaktionäre, antikommunistische und antisemitische Politik, die sich als unvereinbar mit den rationalistischen, universalistischen und kosmopolitischen Ideen Le Corbusiers erwies.
Le Corbusier konzentrierte sich in dieser unproduktiven Zeit ohne Aufträge deshalb vorwiegend auf die Kunst und das Schreiben von Büchern. Bitter enttäuscht verliess er 1942 Vichy und kehrte nach Paris zurück. Er fokussierte sich fortan auf Wiederaufbauprojekte für die Nachkriegszeit. 1942 begann sich die öffentliche Meinung zunehmend gegen das Vichy-Regime zu wenden. Die Kollaboration mit Nazideutschland wurde offensichtlich und die Repressionen nahmen zu, so auch die Verfolgung und Deportation von Juden und Jüdinnen. Bis zur Befreiung Frankreichs hielt sich Le Corbusier bedeckt und ging zunehmend davon aus, dass die Zukunft Frankreichs von General Charles de Gaulle gestaltet würde, der von London und Algiers aus die Résistance anführte – der Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung. Nach der Befreiung erhielt Le Corbusier für seine städtebaulichen Ideen Unterstützung von wichtigen Mitgliedern der Résistance. Im Zuge des Wiederaufbaus kam er deshalb erstmals in den Genuss bedeutender Aufträge von Seiten des französischen Staates.
Vertrat Le Corbusier antisemitische Positionen?
In der jüngeren Vergangenheit wurde bekannt, dass sich der junge Le Corbusier in Briefen an seine Familie und engsten Bekannten in einigen Fällen antisemitisch geäussert hatte, wobei er damals gängige Stereotypen aufgriff. In seinem beruflichen Umfeld oder in der Öffentlichkeit äusserte sich Le Corbusier hingegen nicht antisemitisch, und er trug auch nicht zur antisemitischen und rassistischen Propaganda seiner Zeit bei. Sein Atelier an der Rue de Sèvres in Paris machte er zu einem kosmopolitischen Ort und er pflegte zahlreiche Freundschaften mit Jüdinnen und Juden.
Einige frühe antisemitische Äusserungen Le Corbusiers in seinen Briefen sind auf Frustrationen über nicht erhaltene Anerkennung oder Streitigkeiten über Baukosten und Baumängel zurückzuführen. Antisemitische Ressentiments waren damals sowohl in der Schweiz wie auch in Frankreich weit verbreitet. Gerade in den Industriestädten waren sie oft Teil einer klassenkämpferischen Rhetorik gegen das vermeintlich ausbeuterische Unternehmertum. Der Antisemitismus zeigte sich aber auch in der Ablehnung des Kommunismus und anderen «ausländischen» Einflüssen.
Le Corbusier erhielt einige seiner ersten Aufträge von jüdischen Unternehmerfamilien in La Chaux-de-Fonds. Er war in diesem Milieu gut vernetzt. Ab 1914 und bis zu seinem Wegzug nach Paris im Jahr 1917 war er sogar Mitglied eines jüdischen Vereins («nouveau cercle juif») in La Chaux-de-Fonds. Trotzdem äusserte er sich in der Privatkorrespondenz teilweise abfällig gegenüber seinen frühen Bauherren.
Im Rahmen seiner Tätigkeiten in Paris arbeitete Le Corbusier ab 1917 mit zahlreichen jüdischen Auftraggeber:innen, Politikern, Mitarbeitenden und Bekannten zusammen: der Künstler Jacques Lipchitz, das Mäzenen-Ehepaar Sarah und Michael Stein, der Filmemacher Jean Epstein, der sozialistische Politiker Léon Blum, der Architekt Jean Badovici, der Fotograf Lucien Hervé oder der Architekt Julius Posener, der 1933 aus Nazideutschland nach Paris floh, und andere. In der Avantgarde-Zeitschrift L’Esprit Nouveau, die Le Corbusier mit Amédée Ozenfant herausgab, publizierten auch jüdische Intellektuelle, z.B. der Kritiker Paul Westheim oder der Philosoph Henri Sérouya. Eine lebenslange Freundschaft pflegte er mit dem Schweizer Architekturkritiker Sigfried Giedion, der seine Visionen unterstützte und popularisierte. In seinem Atelier waren überdies Architekten tätig, die sich für die zionistische Bewegung engagierten, darunter Shlomo Bernstein oder Samuel Barkai.
Le Corbusier hatte eine begeisterte Gefolgschaft im «Jischuv», dem jüdischen Gemeinwesen in Palästina vor der Gründung des Staates Israel, und prägte die dortige Architektur mit. Er sympathisierte mit dem Zionismus und interessierte sich für Aufträge aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina. Mit Anführern des Zionismus wie Wolfgang von Weisl teilte er die Auffassung, dass die verfolgungsbedingte Migration der jüdischen Bevölkerung aus Europa als Chance zu verstehen sei, eine neue jüdische Gesellschaft zu errichten. Nach 1945 unterstützte er aktiv die «Ligue Française pour la Palestine Libre», eine linke Vereinigung, die für die Schaffung eines jüdischen Staates kämpfte.
Weshalb wird die Architektur und der Städtebau Le Corbusiers kritisiert?
Le Corbusier verstand es, mit radikalen Visionen zu provozieren und Aufsehen zu erregen. Er schlug beispielsweise Pläne vor, die eine tiefgreifende Neuordnung von Städten und den Abriss historischer Viertel vorsahen, wie etwa der Plan Voisin für Paris von 1925. Le Corbusier reagierte auf die oft desolaten Zustände in den europäischen Städten im Zeitalter der Industrialisierung und nutzte die Provokation, um seine Ideen ins Gespräch zu bringen. Dieser provokative Charakter zeigt sich u.a. an Le Corbusiers Publikationen, in denen er bissige Kritik an den etablierten Architekten und den Kunstakademien übt, obwohl er selbst weder als Architekt ausgebildet war noch über eine akademische Ausbildung verfügte.
Grundsätzlich knüpften Le Corbusiers Visionen an den Ideen der Aufklärung, des Rationalismus und der Freiheit an. Mit seinem unbedingten Glauben an den Fortschritt, seiner rationalistischen und kosmopolitischen Haltung, seiner Ablehnung der Tradition und seiner optimistischen Überzeugung, die technischen Fortschritte nutzen zu können, um die Gesellschaft zu verbessern, stiess Le Corbusier allerdings zeitlebens auf Kritik. Schon in den 1920er Jahren wurde die Architekturmoderne sowohl von der extremen Rechten wie auch von Vertretern der traditionellen Architektur und des Handwerks ins Visier genommen. Der moderne, sogenannte «internationale Stil» wurde als «bolschewistisch», «jüdisch» oder «arabisch» bezeichnet, als arrogante Abkehr von der Tradition kritisiert und als Affront gegenüber der regionalen und nationalen Kultur und Identität dargestellt. Diese Haltung wurde auch vom Nationalsozialismus übernommen. Im italienischen Faschismus hingegen galt die moderne Architektur zunächst als Manifestation des Fortschritts und des «neuen Menschen». Ab den 1930er Jahren wandte sich aber auch Mussolini von der Architekturmoderne ab.
In den letzten Jahren wurden Le Corbusiers unrealisierte Stadtentwürfe der 1920er und 1930er Jahre teilweise als autoritäre oder totalitäre Visionen kritisiert. Tatsächlich bedeutete Stadtplanung für Le Corbusier, im Auftrag des Staats, aber ohne Beteiligung der Bevölkerung Wohnraum für Millionen von Menschen zu erstellen. Frühe Stadtenwürfe wie die ville contemporaine waren aber nicht als konkrete Baupläne gedacht, sondern eher als visionäre Ideen für eine neue Gesellschaft im Geist der Avantgarde. Später entstand der Entwurf der ville radieuse in Antwort auf die Planwirtschaft der Sowjetunion, wo zur Zeit Stalins zahlreiche Planstädte errichtet wurden. Der Glaube, eine «neue Welt» errichten zu können, zog dort neben Le Corbusier auch zahlreiche weitere Architekt:innen aus Westeuropa an, unter anderem vom Bauhaus.
Le Corbusier wird auch für die architektonischen und städtebaulichen Verfehlungen der Nachkriegszeit und die damit verbundenen sozialen Probleme verantwortlich gemacht, insbesondere im Bereich des Sozialbaus. Obwohl Le Corbusier nie eine umfangreiche, mehrteilige Wohnsiedlung baute, wurde im Städtebau der Nachkriegszeit oft auf die theoretischen Ideen Le Corbusiers Bezug genommen – z.B. die Charta von Athen, einem Gründungsdokument des modernen Städtebaus, bei dem Le Corbusier federführend war. Diese Ideen wurden in vielen Europäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg angewandt und galten als zukunftsweisend und fortschrittlich.
Die heute vielfach in der Kritik stehenden Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit in ganz Europa wurden in der Regel ohne Rücksicht auf Le Corbusiers architektonische Ideen realisiert, etwa in Bezug auf den Einsatz von Licht und Farbe und die ästhetische Qualität der Räume. Die Architektur der Nachkriegszeit war in erster Linie vom Zwang geprägt, eine maximale Anzahl von Wohnungen so schnell und günstig wie möglich zu errichten. Künstlerische Aspekte, die für Le Corbusier im Zentrum standen und charakteristisch für alle seiner Bauten sind, fanden dabei kaum Beachtung.
Kontroverse um Le Corbusiers Rolle im Haus E.1027 von Eileen Gray
Zurzeit ist in den Kinos der Film E.1027: Eileen Gray und das Haus am Meer von Beatrice Minger und Christoph Schaub (2024) zu sehen. Der Film beleuchtet das Werk der irischen Designerin und Architektin Eileen Gray sowie unter anderem die historische Begebenheit, dass Le Corbusier sieben Wandgemälde in dem von ihr entworfenen Haus E.1027 in Roquebrune-Cap-Martin (F) geschaffen hat. Die Geschichte des Hauses ist komplex und vielschichtig.
E.1027 wurde ursprünglich von 1926 bis 1929 von Eileen Gray (1878-1976) zusammen mit dem Architekten und Publizisten Jean Badovici (1893-1956) als gemeinsame Wohn- und Arbeitsstätte errichtet. Nachdem sich das Paar 1932 getrennt hatte, überliess Gray das Haus Badovici zur alleinigen Nutzung und kehrte nie wieder zurück. Badovici, dem das Haus gehörte, bewunderte Le Corbusier und pflegte seit Ende der 1920er Jahre eine Freundschaft mit ihm. 1936 lud er Le Corbusier ein, erstmals die Wände seiner Häuser zu bemalen – zunächst im Dorf Vézelay (F), wo er mehrere Häuser besass, und 1938-1939 auch im Haus E.1027, das Le Corbusier auf Einladung von Badovici als Ferienhaus und Arbeitsplatz nutzte.
Le Corbusier und Eileen Gray kannten sich persönlich kaum und sind sich vermutlich erst 1956 erstmals begegnet. Als Le Corbusier 1938 seine ersten Wandgemälde im Haus E.1027 anfertige, drückte er in einem Brief an Gray seine grosse Wertschätzung für das Haus aus. Gleichzeitig veränderte er mit seinen Wandgemälden die Atmosphäre des Hauses erheblich und «eignete» sich das Haus in gewisser Weise künstlerisch an. Eileen Gray erfuhr erst Ende der 1940er Jahre von den Wandgemälden, als Le Corbusier Bilder davon veröffentlichte. Berichten zufolge war sie empört, betrachtete sie als Vandalismus und forderte deren Entfernung. Der darauffolgende Konflikt führte zum Bruch zwischen Le Corbusier und Badovici. Le Corbusier protestierte heftig und forderte, dass die Wandgemälde vor einer möglichen Entfernung fotografisch dokumentiert würden, da er keinen Zugang zum Haus hatte und es ihm nicht gehörte. Letztlich blieben die Gemälde aber unangetastet. 1956 verstarb Badovici.
Wie Le Corbusiers Wandgemälde in E.1027 zu verstehen sind und wie damit umzugehen ist, ist seit den 1990er Jahren Gegenstand kontroverser Debatten und zahlreicher Artikel, Bücher, Dokumentationen, Fiktionalisierungen und Spekulationen. Einige Forscher:innen vertreten die Ansicht, dass die Wandgemälde den Charakter einer sexuell aufgeladenen künstlerischen Aggression besitzen und verweisen u.a. auf die vulgäre Sprache, die Le Corbusier in seiner Korrespondenz mit Badovici verwendete. Le Corbusier und auch Badovici betrachteten die Wandgemälde hingegen als Bereicherung und Belebung des Hauses. Nach heutigem Wissensstand ist unklar, ob Le Corbusier beabsichtigte, Grays Werk mit seinen Wandbildern zu beschädigen.
Was die Geschichte des Hauses E.1027 besonders auszeichnet, ist die Tatsache, dass drei bedeutende und sehr unterschiedliche Persönlichkeiten der Architekturgeschichte involviert waren – der dominant auftretende und schon damals international bekannte Le Corbusier, die sehr zurückhaltende Eileen Gray, die bis vor kurzem relativ unbekannt blieb, und der umtriebige Jean Badovici, der das Haus zahlreichen Gästen öffnete.
In den 1950er Jahren baute Le Corbusier den Cabanon, ein kleines Ferienhaus für sich und seine Frau Yvonne, sowie Camping-Unterkünfte in unmittelbarer Nähe zu E.1027. Diese Standortwahl ist wiederum Gegenstand kontroverser Debatten. Nach heutigem Kenntnisstand ist diese Entscheidung Le Corbusiers auf seine Freundschaft mit der Familie Rebutato zurückzuführen, die seit 1949 ein kleines Restaurant neben dem Haus E.1027 betrieb, und mit der er bis zu seinem Tod eng verbunden blieb. Kritiker:innen sehen darin einen fortdauernden Wunsch Le Corbusiers, Kontrolle über das Gelände auszuüben.
Nach dem Tod Badovicis in den 1950er Jahren unternahm Le Corbusier grosse Anstrengungen, den Erhalt von E.1027 zu sichern. Aufgrund von Schäden aus dem 2. Weltkrieg und der exponierten Lage am Meer verschlechterte sich der Zustand des Hauses zunehmend. Erst im Jahr 2021 wurde eine umfassende Restaurierung abgeschlossen, wobei die verbleibenden Wandgemälde Le Corbusiers restauriert, das Gebäude ansonsten aber in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt wurde. Heute kann es als Teil des architektonischen Ensembles Cap Moderne besichtigt werden.
Wo erhalte ich weitere Informationen?
Jean-Louis Cohen, «Le Corbusier, die Juden und der Faschismus, Eine Klarstellung» [« Le Corbusier, les Juifs et les fascismes. Une mise au point »] [«Le Corbusier, Jews and fascism: setting the record straight»], Studie im Auftrag der Stadt Zürich, 2012.
Le Corbusier 1930-2020 : Polémiques, Mémoire et Histoire, hrsg. von Rémi Baudouï, mit Textbeiträgen von Rémi Baudouï, Jean-Louis Cohen, Arnaud Dercelles, Tzafrir Fainholtz, Mary McLeod, Josep Quetglas u.a., Paris: Tallandier, 2020.
Robert Belot, Le Corbusier Fasciste ? Dénigrement et mésusage de l’’histoire, Paris : Hermann, 2021.
Robert Fishman, «From the Radiant City to Vichy: Le Corbusier’s Plans and Politics, 1928-1942», in: Russell Walden (Hg.), The Open Hand: Essays on Le Corbusier, 1983