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Gestaltung mit neuen Materialien

Zahlreiche von Anni Albers’ Schriften sind dem Material und seiner zentralen Rolle im kreativen Prozess gewidmet. «Da einzig das Material der Kunst Realität verleiht, erfahren wir, indem wir es formen, mehr über die Kräfte, die bei jedem Schaffensprozess am Werk sind.»

Albers war eine nüchterne Beobachterin ihrer Umgebung, die auch an unkonventionellen Orten stets nach potenziellen neuen Materialien Ausschau hielt. 1934 erzählte sie einem Herausgeber der Zeitschrift Arts and Decoration, wie sie einen Hut aufgetrennt hatte, um das Zellophan daraus für einen neuen Stoff zu verwenden, an dessen Entwicklung sie gerade arbeitete. Für ihre Experimente mit unterschiedlichen Kombinationen aus natürlichen und synthetischen Stoffen, darunter Stroh, Jute, Baumwolle, Seide, Wolle, Chenille, Metallfäden, Plastik und Zellophan, fertigte sie während vieler Jahrzehnte ­unzählige Stoffmuster an. In ihren ungewöhnlichen Kreationen betonte sie gegensätzliche Eigenschaften wie grob–glatt, matt–glänzend oder hart–weich.

Beim Design von Industrietextilien entwickelte Albers Strategien, um eine visuelle Haptik zu erreichen. Die Ausbrennstoffe, die sie für Sunar bzw. S-Collection entwarf, waren, ebenso wie die bedruckten Stoffe für Knoll, rhythmisch und vielschichtig. In einigen Arbeiten auf Papier, wie beispielsweise in der Reihe Mountainous, transformierte sie das Trägermaterial in ein dreidimensionales Objekt.

Für Albers stellte die Berührung von Material den Kern des Menschseins dar: «Wir berühren Dinge, um uns der Wirklichkeit zu vergewissern. Wir berühren die Gegenstände, die wir lieben. Wir berühren die Dinge, die wir gestalten. Unsere taktilen Erfahrungen sind elementar.»

Rekonstruktionen des Wandbespannungsstoffes für die Aula der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftbundes in Bernau

Anni Albers bezeichnete ihren silberne Wandbespannungsstoff von 1929 als «ein faszinierendes Stück textiler Ingenieurskunst». Drei Versuche, das Gewebe aufgrund originaler handgewobener Fragmente zu rekonstruieren, geben das ursprüngliche Erscheinungsbild und die komplexe Struktur des Gewebes wieder. Zugleich machen sie deutlich, wie anspruchsvoll es ist, dieses Textil – oder irgendeine Einzelanfertigung – präzise nachzubilden.

Handgewobene Muster

Textilien entstehen, ebenso wie Architektur, in einem konstruktiven Prozess: Sie bestehen aus verschiedenen Elementen, die ein Ganzes bilden, während sie ihre eigene Identität beibehalten. Rauhe, natürliche Fasern wie Jute bringen ihre steife Struktur ein, während glänzende Metallfäden je nach Lichteinfall glitzern. Zusammen erzeugen sie eine vibrierende Struktur. Albers war der Ansicht, dass Designprobleme mit den Händen zu lösen seien. Für jedes ihrer Projekte fertigte sie zahlreiche handgewebte Proben an und suchte – ob für Wandbespannungen, Ausstellungs- oder Kleidungsstoffe, Vorhänge oder Abdeckungen – nach der jeweils effektivsten und attraktivsten Lösung.

1939 erhielt Albers vom Architekten Marcel Breuer den Auftrag, Textilien für ein grosses Haus zu entwerfen, das dieser gemeinsam mit dem ehemaligen Bauhaus-Direktor Walter Gropius in Pittsburgh, Pennsylvania baute. Die Auftraggeber: innen, Robert und Cecelia Frank, entschieden sich im grossen Schlafzimmer für eine rosafarbene Wandbespannung aus Chenille und Kupfer. Hinter einem niedrigen Bett bedeckte der Stoff die gesamte Wand und reflektierte den Lichteinfall. So entstand im Zimmer zu jeder Tages- und Nachtzeit ein warmes, glitzerndes Licht.

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