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Knoten und Schrift

1964 schrieb Anni Albers bezugnehmend auf eine jüngst angefertigte Lithografie: «Obwohl es keine Webarbeit ist, so geht es hier doch um die Fäden, auch wenn es ein anderes Medium als Textil ist.» Vielleicht schon bei ihren Besuchen im Ethnologischen Museum in Berlin in den 1920er-Jahren, spätestens aber als sie in den frühen 1950ern Chile und Peru bereiste, begegnete Albers dem Quipu. Dieses komplexe Fadeninstrument aus geknoteten Kamelhaar- oder Baumwollfäden wurde in den Anden zum Zählen, zum Aufzeichnen von Daten und zur Kommunikation verwendet.

Obwohl die wissenschaftliche Forschung zu den Quipus noch ganz am Anfang stand, verstand Albers intuitiv, dass Schreiben nicht auf die gedruckte oder von Hand beschriebene Seite beschränkt war, sondern dass die andinen Weber:innen mit dem Quipu ein primäres Ausdrucksmittel mit einer ganz eigenen Sprache entwickelt hatten. Die ­geknotete Struktur, die Art der Knoten ebenso wie ihre Farbe, Grösse und Platzierung, übertrug unterschiedliche Informationen.

Albers’ kleinformatige Bildwebereien Haiku und Code nehmen mit ihrem Titel und ihren irregulär platzierten Knoten, die die gewebte Oberfläche mit ihren fliessenden Linien durchbrechen, auf derartige Weise verschlüsselte Sprache Bezug und untergraben gleichzeitig die strikte Geometrie von Kette und Schuss. Albers’ Erkundungen des expressiven Potenzials von Quipu-inspirierten Knüpfungen laden die Betrachtenden ein, die Textilien wie ein Schriftstück zu lesen.

In ihren grossformatigen textilen Arbeiten ging Albers in ihrer Auseinandersetzung mit verschlüsselter Schrift noch einen Schritt weiter. Six Prayers beispielsweise bezieht sich auf die Codesprache der Schriftrollen vom Toten Meer, die in den späten 1940er- und 1950er-Jahren in der Judäischen Wüste entdeckt und erstmals 1965 in den USA in der Library of Congress in Washington gezeigt wurden. Die in der Arbeit verwendeten silbernen Fäden sollen den metallenen Charakter der Schrift dieser Rollen wiedergeben und verleihen Albers’ Paneelen einen «zeremoniellen Charakter».

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